Der Club des toten Dichters
Am 16. April wäre er 60 Jahre alt geworden, am 26. jährt sich sein 25. Todestag. Fast im Alleingang wollte Brinkmann einen literarischen Underground etablieren, den er in den USA kennen- und lieben gelernt hatte. Er wollte die Mausoleumskultur zum Einsturz bringen, wollte mit verbaler Trivialität eine neue Sensibilität erzeugen. Das Auto fuhr schneller.
Von Frank Schäfer es gibt schon merkwürdige Zufälle, tragische auch. In „Gras“ (1970), Rolf Dieter Brinkmanns letztem, von der Kritik kaum mehr wahrgenommenem Gedichtband vor dem großen Siebziger-Blues und zeitweiligen Verstummen, imaginiert er sein eigenes Ende: „Das Gras ist verblasst Jetzt wird es Zeit, sich auf einen Unfall vorzubereiten, der nichts Erschreckendes für mich haben wird!“
Ich glaube ja nicht an Vorhersehungen und Weissagungen, ich glaube nur an die grauenhafte Willkür des Fatums, aber für einen Moment kommt man doch ins Grübeln, wenn man den Ausriss aus der BILD wieder liest, den Uli Becker in seinem wunderbaren, Brinkmann auf artifiziell-ironische Weise fortschreibenden Debüt-Buch „Meine Fresse!“ (1977) für die Nachwelt aufbewahrt hat: „Deutscher Dichter 17 dpa. London, 26.4. Der 35jährige Dichter Rolf Dieter Brinkmann („Die Umarmung“) ist in London von einem Auto überfahren worden. Er starb.“
1975 war das, kurz bevor „Westwärts 1 & 2“, Brinkmanns nachmals bekanntester Gedichtband und, wie gesagt, sein erstes Buch nach fünf Jahren, erschien. Nicht gerade ein Rock’n’Roll-Tod, schon gar kein Heldentod (obwohl einige Dunkelmänner der Szene etwas von Selbstmord raunten oder, noch abseitiger, eine anonyme Erledigung eines ungeliebten Autors herbeilogen). Aber wer weiß – wenn ihn damals kein Auto erfasst hätte, dann wäre das Buch vielleicht auch kein Bestseller (jedenfalls für einen Lyrikband) geworden, hätte man ihm keinen Petrarca-Preis verliehen und vermutlich auch nicht den Heiligenschein der Hochliteratur aufgesetzt. Denn
bis zu seinem Tod war er in der linken Subkultur eine feste Größe, galt Kennern der lyrischen Szene als Geheimtip und den Stipendienvergabekommissionen immerhin als durchaus förderungswürdiger Autor. In der breiten Öffentlichkeit aber wurden seine Texte eigentlich nicht wahrgenommen, abgesehen vielleicht von dem kurzen, schrillen Feedback Ende der sechziger Jahre, als er zum Stellvertreter der deutschen Pop-Literatur aufstieg, dem gutbürgerlichen Kulturbetrieb mit körnigen Sottisen die Leviten las („Die Toten bewundern die Toten!“) und bisweilen wegen seiner kruden, unkalkulierbaren Zornesausbrüche für Furore sorgte. Nachgerade legendär jener Abend im November ’68 in der Westberliner „Akademie der Künste“, wo er den Literaturkritikern Rudolf Härtung und Marcel Reich-Ranicki mit den Worten „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen!“ den Abend verdorben und folglich die Diskussionsrunde gesprengt haben soll. Und das, obwohl letzterer den hier gemeinten Roman „Keiner weiß mehr“ ja durchaus wohlwollend rezensiert hatte…
Nun, das war einmal. Mittlerweile geht es ihm wie Arno Schmidt: Eine Gemeinde von addicts schart sich um seine Texte und betreibt tiefsinnige Exegese. Und, denkt nur! sogar die Germanistik, die ja doch immer etwas länger braucht, hat ihn schon inkorporiert. Dabei fielen Brinkmann zu teutscher Grübeligkeit eigentlich nur ganz konkrete Kraftworte ein (und sein Verhältnis zur „Viehlologie“ kann man nun wirklich nicht anders als gespannt bezeichnen). Nein, das Profane interessierte ihn, die möglichst authentische, möglichst unmittelbar wahrgenommene Wirklichkeit.
Wie aber ist so etwas zu erreichen, Unmittelbarkeit? Der moderne Künstler, der sich wie Brinkmann die Techniken des „nouveau roman“ (von Robbe-Grillet u.a.) draufgeschafft hat und in seinen frühen Prosa-Publikationen „Die Umarmung“ (1965) und „Raupenbahn“ (1966) eisern daran entlangschreibt, weiß ja, dass es Realität an sich gar nicht gibt, dass sie erst in der Brechung durch unseren Wahrnehmungsapparat entsteht. Nun, in diesem Fall macht man eben die Not zur Tugend, verschreibt sich einem radikalen Subjektivismus, der totalen Introspektion mithin und postuliert „die neuerliche Aktivierung der durch das Denken in Abstraktionen weggedrückten übrigen Schichten des Menschen, hören, tasten, sehen, die helle Sensibilität der Haut, ein Sehen, das nicht zuerst über die kuriosen Balanceakte der Grammatik geschieht… warum lieben Sie nicht Ihre Schuhsohlen? Auf denen Sie doch herumlaufen, und warum werden nicht Gedichte über Schuhsohlen oder Unterhosen oder Lippenstifte geschrieben?“ Oder über nasse Strumpfhosen, sollte man hier hinzufügen – um dann endlich Gelegenheit zu finden, eins der berühmtesten und ob seiner anthologiefreundlichen Kürze häufig nachgedruckten Gedichte Brinkmanns zu zitieren: „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar/ Ein Stück Draht, krumm/ ausgespannt, zwischen zwei/ kahlen Bäumen, die/ bald wieder Blätter/ treiben, früh am Morgen/ hängt daran eine/ frisch gewaschene/ schwarze Strumpfhose/ aus den verwickelten/ langen Beinen tropft/ das Wasser in dem hellen,/ frühen Licht auf die Steine.“ Und wer die „schwarze Strumpfhose“ nennt, der muss auch „einen jener klassischen schwarzen Tangos“ nennen – nämlich: „Einen jener klassischen/ schwarzen Tangos in Köm, Ende des/ Monats August, da der Sommer schon/ ganz verstaubt ist, kurz nach Laden/ Schluß aus der offenen Tür einer/ dunklen Wirtschaft, die einem/ Griechen gehört, hören, ist beinahe/ ein Wunder: für einen Moment eine/ Überraschung, für einen Moment/ Aufatmen, für einen Moment/ eine Pause in dieser Straße, / die niemand liebt und atemlos/ macht, beim Hindurchgehen. Ich/ schrieb das schnell auf, bevor/ der Moment in der verfluchten/ dunstigen Abgestorbenheit Kölns/ wieder erlosch.“
Das ging damals noch, Mitte der Siebziger. Und vielleicht gibt es ja doch den einen oder anderen, der hier, wie ich, einen Moment innehält und einer Zeit hinterhertrauert, da man für solche anmutig-simplen Verse noch Preise bekam. Aber so scheinbar unscheinbar die Gedichte auch sind, so kalkuliert sind sie auch. Brinkmann wollte trivial sein: „Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus“, schreibt er in seiner Vorbemerkung zu „Westwärts 1 & 2“. Kurzum, die Sprache mit ihren Festlegungen sprachlich hinter sich zu lassen, die Einmaligkeit des Augenblicks, der versprachlicht schon wieder einer von vielen ist, trotzdem in Worten festzuhalten, das sind die paradoxen Forderungen an seine, an jede Literatur. „Einübung einer neuen Sensibilität“ heißt das Programm, eine Sensibilität, die sich nicht mehr blind auf Worte verlässt, weil sich mit diesen Keksförmchen nur genormte Figuren aus dem großen Teig des Lebens ausstechen lassen.
So ein poetologisches Programm entsteht nicht aus dem Nichts. Brinkmann bedient sich beim weltläufigen William Carlos Williams, der Beat Generation, noch mehr aber bei Frank O’Hara, der 1966 bei einem Autounfall gestorben war (kleiner Hinweis zum Grübeln fiir Esoteriker!) und der all den jungen, unerfahrenen Lyrikern ins Poesialbum geschrieben hatte, „dass schlechthin alles, was man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man es nur genau genug sieht und direkt genug wiedergibt, ein Gedicht werden kann“. Sojedenfalls paraphrasiert ihn Brinkmann in der „Notiz“ zu „Piloten“ (1968), seinem ersten Gedichtband bei einem Major-Verlag. Im Jahr darauf übersetzte Brinkmann dann auch O’Haras „Lunch Poems“.
Kurzum, er war affiziert von der amerikanischen Underground- und Pop-Szene, vor allem von jener jungen Literatur, die den propagierten Sensualismus und die Hinwendung zum Alltäglichen und Trivialen schon eine Weile praktizierte. Und er setzte alles daran, ihrer Rezeption in Deutschland den Boden zu bereiten, um die hiesige Mausoleumskultur über kurz oder lang zum Einsturz zu bringen. Und zwar nicht nur mit seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit, sondern auch – kurzfristig vielleicht sogar noch wirkungsmächtiger – als Übersetzer und Herausgeber von Anthologien. Vor allem einer Anthologie, die in Kollaboration mit seinem Freund Ralf-Rainer Rygulla entstanden ist: „Acid. Neue amerikanische Szene“ (1969).
Was diese von den nur kurz zuvor bzw. gleichzeitig erschienenen Kompilationen „Fuck You“ (Hg. von R.-R. Rygulla, Darmstadt 1968) und „Silverscreen“ (Hg. von R. D. Brinkmann, Köln 1969), aber auch von den früheren Sammlungen Junge amerikanische Lyrik“ (Hg. von Gregory Corso und Walter Höllerer, München 1961) und „Beat“ (Hg. von Karl O. Paetel, Reinbek 1962) unterscheidet, ist zunächst einmal ihre größere Materialfülle, zugleich aber auch ihr offeneres Konzept Während jene sich auf die amerikanische Underground-Belletristik meistenteils sogar nur auf die lyrische Produktion dieser Szene – beschränken, geht es hier darum, so Brinkmann im Nachwort, „ein Gesamtklima vorzustellen, das sich seit dem Auftreten der Beat Generation Mitte der fünfziger Jahre andeutete und von der nachfolgenden jüngeren Generation aufgegriffen, modifiziert und weiterentwickelt worden ist“. Mit anderen Worten: Neben Lyrik und Kurzprosa dokumentiert „Acid“ auch Interviews, Zeichnungen, Collagen, Comics, Fotos und sogar ganz unpoetische Essays, heterogenes Material also, das vor allem symptomatischen Prinzipien gerecht
werden, mithin den Geist dieser Zeit einfangen soll – und dies auch tut. Dass die Herausgeber dabei neben Brillantem, auch von teilweise schon damals populären Künstlern wie Donald Barthelme, Ted Berrigan, Joe Brainard, Charles Bukowski, William S. Burroughs, Leslie A. Fiedler, Marshall McLuhan, den Fugs, Frank O’Hara selbstredend, Andy Warhol, Frank Zappa etc., auch ein Haufen obskures Zeug zusammengestoppelt haben, ist von daher verständlich. Das macht auch nichts, weil sich im übertriebenen, in der extremen Übererfüllung des weltanschaulichen Solls dieses selbst eben noch immer am offensichtlichsten zeigt. Und witzig ist es allemaL Witzig ist es aber auch zu sehen, wie die Herausgeber Hand in Hand arbeiten. In seinem Nachwort „Der Film in Worten“, zugleich ein Aufriss seiner eigenen Poetik, fordert Brinkmann einmal mehr eine „erweiterte Sinnlichkeit“ anstatt der herrschenden „Lustfeindlichkeit“ und des „total blinden Begriffefetischismus“. Und in den anschließenden biografischen Anmerkungen zu den Beiträgern setzt sein Kombattant Rygulla das Gelernte dann auch gleich in die Tat um: „Anne Waldmann hat langes weiches Haar und ein Gesicht wie Sarah Miles. Sie sieht sehr freundlich aus. Sie ist wahrscheinlich der jüngste Autor dieser Anthologie.-“ (Heute würde man wohl eher „Autorin“ schreiben.) Oder: „Tom Clark sieht, was für einen bereits arrivierten jungen Lyriker ungewöhnlich ist, aus wie ein schöner Hippie .““ Oder: „Leonore Kandel ist nicht mehr länger eine professionelle Bauchtänzerin.» 4 ‚ Wunderbar stränge dann allerdings auch der folgende Eintrag: „Ted Berrigan wurde am 15. 11. 1934 in Providence, R. I., geboren. Das macht ihn 32 Jahre alt.* 4 Nun war Berrigan 1969, als Rygulla seine Kurzbiogramme schrieb, bereits 35 Jahre alt! Das sind echte Acid-Fakten.
Schon wenig später ist der Spaß allerdings vorbei. Der kommerzielle Markt vereinnahmt den Underground und bricht die revolutionäre Spitze. Gleichzeitig marschieren die ehemaligen Protestler los, im Gleichschritt durch die Institutionen und erkennen so langsam auch die klimatischen, kulinarischen und anderen Vorzüge der Toscana. Vorbei die Hoffnung auf eine Veränderung der Literatur (und langfristig auch Gesellschaft) durch die Pop-Subkultur. Brinkmann fallt in eine tiefe Depression und zieht sich langsam aus der Öffentlichkeit zurück. Nicht ganz freiwillig, denn viel will die von ihm auch nicht mehr wissen. Offenbar fühlt man sich, endlich erwachsen geworden, durch ihn zu sehr an die eigenen juvenilen Phantastereien erinnert. Aber die Rückbesinnung auf das schreibende Selbst setzt auch neue Produktivität frei. Brinkmann experimentiert mit avantgardistischen Schreibweisen, der Montage und Collage, integriert authentisches Bildmaterial in seine Texte, wie er dies schon früher ansatzweise probiert hatte – bei dem bibliophilen Gedichtband „Godzilla“ (1968) etwa, der die Texte auf Fotos von kitschig-drallen Bikini-Schönheiten präsentiert.
Es entstehen Mappen und Collagebücher. Das eindrucksvollste dieser erst postum veröffentlichten scrap books, die als Vorarbeiten zu einem neuen Roman angelegt waren, ist wohl „Rom, Blicke“ (1979). Hier versucht er in Fotos, Postkarten, Quittungen, Stadtplänen, Collagen, Briefen an seine Frau Maleen sowie an Freunde und Kollegen, Tagebuchund Lektürenotizen und fremden Texten seinen Aufenthalt in der Ewigen Stadt – er war 1972/73 Stipendiat der Villa Massimo – authentisch, möglichst eins zu eins abzubilden. Eine gigantische Hasslatte: „Schrotti überall?‘. Kaum etwas hält seinem Exekutoren-Blick stand: nicht die Mit-Stipendiaten an der Villa Massimo, nicht die Linksintellektuellen, nicht der Kulturbetrieb, ein paar literarische Solitäre allerhöchstem – und seine Frau, der er seitenlang und beinahe quälend minutiös seine Befindlichkeiten beschreibt. Quälend auch deshalb, weil er jegliche Stilisierung fahren läßt, ein amorphes Ad-hoc-Protokoll liefert, das auf den Leser keine Rücksicht nimmt (in dieser Form von Brinkmann aber ja auch nicht zum Druck vorgesehen war). Rom wird zur Großmetapher für die verwesende Zivilisation, ihren äußeren wie inneren Zerfall, für das zum Untergang verurteilte Abendland. Selbst die einstmals so protegierte populäre Kultur mit allen ihren Weiterungen, einschließlich der Rockmusik, hat Anteil an der allgegenwärtigen „mentalen Verseuchung“. Nicht umsonst stehen jetzt die großen Kulrurpessimisten John Cowper Powys, Hans Henny Jahnn, Gottfried Benn und der späte Arno Schmidt auf seinem Lektüreprogramm.
Durch Brinkmanns rücksichtsloses und nachgerade dokumentarisches Stenogramm bekommen wir allerdings auch einen detailreichen Einblick in die Kulturszene der sich langsam sedierenden Protestgeneration: Kleidungs- und Diskussionsgebaren, Haartrachten, Strategien der Stipendienakquisition und andere Nichtigkeiten des intellektuellen Alltags, die man in keiner Kulturgeschichte findet. Das wäre jetzt gewissermaßen das Karasek-Argument: So viel kann man lernen aus dem Buch. 1 Ob es aber ab Werk wirklich gelungen ist? Beeindruckend, doch, das ist es schon, dieses monomanische, alles – das heißt auch sich selbst – sezierende Bewußtseinsprotokoll, aber über weite Passagen eben auch von einer prosaischen Nichtigkeit, einer Durchschnittlichkeit, stellenweise sogar von einer Dummheit und dumpfen Spießigkeit, die man diesem Renegaten und Philisterschreck eigentlich gar nicht zugetraut hätte. Aber gerade, wenn die Lektüre wieder einmal zu enervieren beginnt, landet man bei einer dieser kleinen lyrischen Inseln, die dann doch versöhnlich stimmen: „Ich komme aus dem Moor, ich habe schwarze verkohlte Bannböschungen hinter mir gelassen, früher Rock’n’Roll darüber geweht, verbranntes Stangenpulver, ein ausgebleichtes Kornfeld im Sommer mit hineingetretenen verwirrenden Gängen, den Geruch von blühender zerriebener Kamille, und ich bin durch Großstädte geschleift, ich bin in Urinlachen geschwommen und habe allerlei dunkle Dinge gesehen und habe einiges kurz davon gekostet – was also Solls, was die ,moderne‘ Welt mir zu bieten hat?“
Ein bisschen was scheint sie für Brinkmann aber doch noch einmal zu bieten zu haben, in seinem letzten Lebensjahr. Unter anderem die gute alte Rockmusik, die für ihn wieder „das einzige innerhalb der geregelten geordneten westlichen Welt (von den Drogen noch abgesehen) ist, was für Momente… ein anderes Gefühl, sei das auch noch so vage, vom Leben gibt“. Mit anderen Worten, die halsstarrigpauschale Zivilisationskritik wird etwas zurückgenommen und vor allem differenziert, es kommt zu einer partiellen Aussöhnung mit dem Pop. „Westwärts 1 & 2“ war ein Neuanfang und trotz der bedrückenden Enge in der Kölner Wohnung, trotz Armut und Existenznot ein durchaus hoflhungsvoller – oder doch zumindest ein standhafter, unbeugsamer, mit zusammengebissenen Zähnen: „Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiten machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter…“ Und für Rolf Dieter Brinkmann macht jetzt Uli Becker weiter.
Ach, wie gern hätte ich hier geschlossen! Aber ohne ein etwas dissonantes Postskriptum geht es doch nicht. Obwohl, wie gesagt, eine Aura des Kults Brinkmann schon eine ganze Weile illuminiert – seinem Werk hat das nicht eben viel genützt: Immer noch steht zum Beispiel die vom Autor zusammengestellte, unbeschnittene Ausgabe von „Westwärts 1 & 2“ aus, obgleich sie bereits mehrfach vom Rowohlt Verlag angekündigt worden war. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht um extremes Geschmäcklertum oder um philologische Pietät, sondern um eine Unterlassungssünde erster Klarinette. In der handelsüblichen, im letzten Jahr erst wieder neu aufgelegten Ausgabe fehlt nämlich immerhin ein Drittel der ursprünglichen Textmasse, neben der Lyrik eben auch ein 150seitiges „unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten“.
Und wer sich mal ansieht, wie es um die postume Betreuung des Werks im mehr als kränkelnden Verlagshaus bestellt ist, der kann sich einen Seufzer ohnehin nicht verkneifen. Völlig heterogen und zerfleddert stehen die Bände da, und anstatt endlich einmal die „Gesammelten Werke“ anzugehen – eine Ehrenpflicht gegenüber einem Autor, an dem man jahrelang vergleichsweise gut verdient hat und der obendrein zu den wenigen deutschen Schrifstellern der 60er und 70er Jahre zählt, die wirklich einige Prägekraft besaßen -, verlegt man höchstens mal einen Brief-Band, weil Briefbände eben gerade gehen, und lässt zu allem Überfluss das diesjährige Gedenktag-Doppel gleich ganz tatenlos verstreichen. „Oh, no, no, no.“