Pop 1999: Exotik, Erotik und Kinder-Krawall

Die Pop-Auguren waren sich sicher. Ein neuer Sound würde 1999 für Furore sorgen. Kein fadenscheiniger Trend, der sich nach ein paar Wochen bereits überholt hat Nein, eine musikalische Bewegung, die abfärben würde auf den kulturellen Komplex. Das Gesetz der Doppelnummer, hatte es nicht immer gegriffen? 44: Bebop! 55: Rock’n’Roll! 66: Psychedelia! 77: Punk! 88: Acid House!? Okay, 1988 begann die Serie zu wanken, was freilich die Hoffnung auf ein Wunder nicht nachhaltig erschütterte. Sogar die Krämerseelen des britischen Branchenblattes „Music Week“ meinten, in der Finsternis rapide fallender Umsätze einen Silberstreif am Horizont auszumachen: „Popmusik hat stets dann ungeahnte Erneuerungskräfte mobilisiert, wenn sie darnieder lag.“

Allein, das Siechtum setzte sich fort Im Spätherbst glichen die Album-Charts einem Gruselkabinett Vor allem hier zu Lande. Celine Dion, Mariah Carey, Chris De Burgh, Joe Cocker, Tina Turner, Cher, Genesis, Eurythmics, Eric Clapton, Simply Red und Tom Jones besetzten die obersten Plätze. Rigor mortis. Und dazwischen turnten, als Vertreter der Moderne gewissermaßen, die Krakeeler der Bloodhound Gang herum. So war das ganze Jahr. Wiedergänger oder Kindergarten. Sogar der Latino- und Kuba-Boom, der im deutschen Sommerloch für willkommene Erfrischung sorgte, stützte sich auf Greise und Gören.

Männer mit intaktem Hormonhaushalt ertappten sich dabei, Jennifer-Lopez-Videos zu glotzen. Ohne Ton natürlich, aber auch ohne Unterlass. Ältere, Plattenläden sonst eher meidende Menschen, strömten nun in dieselben. Buena Vista Social Club kam ihnen

nur schwer über die Lippen, und so fragten sie halt nach, Sie wissen schon, der Musik zu diesem Wim-Wenders-Film. Multikulti im Mediamarkt.

Im Windschatten von Ricky Martin und Ibrahim Ferrer reüssierte indes auch einer, dessen Musik schon in Woodstock auf dem absteigenden Ast war, und den eigentlich niemand vermisste: Carlos Santana. Mit „Smooth“ gelang ihm in den USA der Hit des Jahres. Das Album heißt „Supernatural“, und dort, im Metaphysischen, liegt vermutlich auch das Geheimnis seines horrenden Erfolgs. Jen million Amencatis can’t be wrong. Santana selbst erläuterte die Umstände von ferschwinden und Wiederkunft mit dem „gnädigen Schicksal“. Damals, so Carlos über seine Crossroads, habe es für die Hippie-Generation nur eine Option gegeben: Heroin oder transzendentale Meditation. Und er habe eben den Weg der Erleuchtung gewählt Cleverer Bursche.

Auch Marianne Faithfull, Randy Newman und Tom Waits schafften Comebacks, wenn auch primär kreative. David Bowie kriegte erstmals seit Jjet’i Dance“ wieder den Spagat zwischen Klasse und Masse hin. Und über die Reunions von Blondie und den Red Hot Chili Peppers kann man in Bezug auf die musikalische Qualität geteilter Meinung sein. Fest steht, dass beide Farbe ins Spiel brachten. Debbie Harry stieg in den Ring mit Jailbait wie Britney Spears und Christina Aguilera, mit makellosen Mannequins wie Shania Twain und den Corrs und mit aufgemotzten Tanten wie Tina und Cher. Scheiß auf die Figur, sagte sie, und machte dennoch eine gute. Eine bessere jedenfalls als diverse Solo-Spices. Besser auch als Iggy Pop bei Harald Schmidt und Prince bei Roger Willemsen. Gerade läuft Beckmann. Mit Angela Merkel, die heute lieber in Bayreuth wagnert, aber in ihren Jungenjahren auch gern mal Janis Joplin hörte. Smudo firmiert in dieser unsäglichen Runde als „Zeitgeist-Poet“ und meint, dass „HipHop das letzte große Ding war“ und dass danach nichts Weltbewegendes mehr kommen werde. Der Mann ist ein Schmock und Wichtigtuer, aber wo er Recht hat, da hat er Recht Dabei sah sich HipHop in den Staaten im selben Maße von weißen Kids verstoßen, wie er in Schulklassen der deutschen Provinz Einzug gehalten hat Freilich in der präpubertären Ausgabe pickeliger Jünglinge, die ihre Attitüden von „VIVA“ beziehen. Schlager, gesprochen. „HipHop continues to wallow inghetto-ology“, diagnostiziert dagegen der Herausgeber von „Vibe“, eines der auflagenstärksten HipHopPeriodika. Kaum Kommunikation mit der Außenwelt HipHop heute ist hermetischer ab in den Old-School-Tagen vor 20 Jahren in New brk City, wo die Message per Boombox an Passanten verWickert wurde. Inzwischen bleibt man lieber unter sich. Das mag ernüchternd sein, vom musikmissionarischen Standpunkt aus. Aber wenigstens ist es nicht unappetitlich. Wie Fettes Brot für HänschenLast Widmen wir uns abschließend den Lichtblicken in einem lausigen Jahr. Travis, da sind sich Leser und Kritiker einig wie selten, haben 1999 mit Songs gefüllt, die Bestand haben werden. Wunderbares Album, vorzügliche Singles, unvergeßliche Gigs. Feinen Pop gab’s auch von Supergrass, gewieften von Wilco, nach vorn flüchtenden von Blur und so schönen wie verschrobenen von XTC. Mit Element Of Crime, Tocotronic, Blumfeld und Fink heimsen gleich vier einheimische Lieder-Kollektive Anerkennung der Leserschaft ein. Die halbe Redaktion freute sich.

Geringeren Zuspruch erhielt diesmal die Fraktion der Melancholiker und manisch Depressiven. Einen Elliott Smith hat 1999 nicht auf den Schild gehoben. Doch fanden Dakota Suite und Freakwater durchaus Gehör, obschon ihre intrikate Musik doch ganz ohne Effekthascherei auskommt. Will Oldham alias Bonnie Prince Billy legte sich ohne Not mit Herausgebern und Lesern der Alternative-Country-Postille „No Depression“ an, denen er latenten Rassismus unterstellte. Ein so schwerer wie unbegründeter Verdacht. Während Simon Joyner und Damien Jurado ihre Karrieren fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortführten. Wer hören will, muss halt lesen. Die meisten global players haben ihren nächsten Spielzug auf 2000 verschoben. Oasis, die Pumpkins und Pearl Jam, U2, die Manics und Radiohead, Neil Ybung, Bob Dylan und die Stones. Den Jahreszahlen mit der 20 vornedran werden magische Kräfte angedichtet Tief drin im Biz sitzt die Angst, dass alles, was noch dem 20. Jahrhundert entsprang, bald als hoffnungslos vorgestrig gelten könnte. Eine lächerliche Furcht, solange jeder Trend auch ein Revival ist Solange die Musik gratis heruntergeladen wird. Und solange man nicht weiß, wann sich die Musikindustrie so selbst obsolet macht. Ist nur eine Frage der Zeit. Die Uhr tickt, sagen die Auguren.

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