Vor zwei Jahren drohte fast das Aus für die Toten Hosen, doch seitdem hat die Band neue Perspektiven entdeckt
Er ritt mal hoch zu Ross über die Andenpässe von Chile nach Argentinien, und im Frühjahr bretterte Campino mit seinen Hosen-Kumpels per Bike quer durch Indien. Doch "Unsterblich", die neue LP der Band, wartet nicht etwa mit exotischen Klängen auf, dafür aber mit höchst extremen Stimmungen. Unsere Vorzeige-Punks sind reifer geworden - der einst rebellische Sänger ist nachdenklicher
Von Martin Scholz Er ritt mal hoch zu Ross über die Andenpasse von Chile nach Argentinien, und im Frühjahr bretterte Campino mit seinen Hosen-Kumpels per Bike quer durch Indien. Doch „Unsterblich“, die neue LP der Band, wartet nicht etwa mit exotischen Klängen auf, dafür aber mit höchst extremen Stimmungen. Unsere Vorzeige-Punks sind reifer geworden – der einst rebellische Sänger ist nachdenklicher Morgens um zwei, nach einem fast sechsstündigen Gesprächs-Marathon und einigen Gläsern Rotwein, ist die Welt, so, wie Campino sie sieht, noch in Ordnung. Jetzt, da er den toten Punkt überwunden hat und es sich schon nicht mehr lohnt, noch ins Bett zu gehen, ist der rechte Augenblick gekommen, ein paar erhellende Sinnfragen zu stellen. Fragen wie die, ob es da einen Zusammenhang zwischen Punk und fernöstlicher Mystik gibt. Wer das als „far out* 4 abtut, muss sich von ihm belehren lassen, dass diese Überlegung bei genauerer Betrachtung gar nicht mal so abwegig ist, wie zunächst scheinen mag. Der Tote Hosen-Sänger hat Salman Rushdies neuen Roman, JDer Boden unter ihren Füßen“ gelesen, jenen 800-Seiten-Wälzer, in dem der Ursprung derRockmusik en passant von West nach Ost verlagert wird. Und weil er, wie er glaubhaft versichert, diese Schwarte auch zu Ende gelesen hat, fühlt er sich ausreichend präpariert, Rushdies fiktive Geschichte von der „oriental disorientation“ um eine kühne These mehr zu bereichern: Indien nämlich sei das Mutterland der Punks. „In England gab’s nur Poseure, die echten Punks lebten schon immer in Indien“, versichert Campino und kramt ab Beweis ein Foto-Album hervor, das die Toten Hosen auf ihrem bewusstseinserweiternden Trip von Goa bis Bombay zeigt. Im Januar und Februar diesen Jahres haben die Düsseldorfer noch einmal fünfFreunde auf Abenteuerurlaub gespielt. Sie sind mit Motorrädern durch Indien gebrettert, um sich, wie vor ihnen die Beades oder zuletzt Kula Shaker, dem clash der Kulturen auszulieferen. Zu jenem Zeitpunkt trug ihr geplantes Album noch den Arbeitstitel „Kamasutm“. „Aber da wir auf dem ganzen Trip nichts über das Kamasutra in Erfahrung bringen konnten, wurde nichts daraus“, tönt Campino. Wieder mal nur pure Koketterie von dem Mann, der laut „Bild“ den größten Sexappeal seines Berufsstandes besitzt Mit solch saloppen Sprüchen hat sich der wohl schlagfertigste deutsche Popstar Vorjahren einen Stammplatz in allen Talkshows gesichert. Aber eigentlich ist ihm heute gar nicht nach Spaßen zumute. Zur Zeit habe er null Bock, als Berufsjugendlicher, als netter Nforzeige-Rebell von einer TV-Plauderrunde zur anderen rumgereicht zu werden, um mal wieder dröge Politiker zu provozieren. Wir hocken im riesigen Wohnzimmer seines Düsseldorfer Domizils, die Queen und die Beades lächeln milde von der Wand, an einer anderen hängt eine sehr bunte, sehr eigenwillige Interpretation von Picassos „Guernica“. Campino sitzt im Schneidersitz auf dem Parkettfußboden und legt die neue CD der Toten Hosen ein. „Unsterblich“ heißt sie jetzt – das erste Studio-Album seit dem 1995 veröffentlichtem „Opiumfürs Volk“. Erst letzte Nacht ist „Unsterblich“ fertig geworden, und der ROLLING STONE-Reporter ist der erste Pressemensch, der sie komplett vorgespielt bekommt. Mit seiner Mixtur aus Swing, Punk und Streicher-Arrangements, mit schroffen Pamphleten ä la Billy Bragg und Gitarren, die wie von Ennio Morricones Western-Sound inspiriert klingen, bietet das Album viele Überraschungsmomente, aber das nach dem Indien-Trip zu befürchtende Sitar-Gezirpe hat man sich gottlob doch verkniffen. „Klar, das hätte wohl jeder spontan erwartet Nein, wir sind nun wirklich nicht zwecks musikalischer Horizonterweiterung nach Indien gefahren. Wir haben während der Zeit über alles mögliche gesprochen, nur nicht über Musik“, sagt Campino. Eine „Magical Mystery Tour“ ganz allein im Dienste der Gruppendynamik. „Wir sind uns menschlich wieder näher gekommen – und das war wichtig.“ Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, dass Wölli, der langjährige Schlagzeuger derHosen, wegen eines Bandscheibenvorfalls bis auf Weiteres nicht mehr hinter der Schießbude sitzen kann. Er wird künftig von Vom Ritchie, seinem bisherigen Roadie, ersetzt „Das ist schon recht merkwürdig für uns, denn Wölli saß schließlich über 15 Jahre am Schlagzeug. Andererseits wäre es ein Unding gewesen, dass er, nur um weiter zu trommeln, eine Querschnittslähmung riskiert. Nein, Wölli ist und bleibt vollwertiges Mitglied der Band“, versichert Campino, „es gibt halt noch ein paar andere Sachen neben der Musik, die uns zusammenhalten.“ Der Ausfall ihres Drummers war nicht die einzige Katastrophe, die über das angejahrte Punk-Quintett kam. Nachdem beim 1000. Konzert, einem Open Air im Düsseldorfer Rheinstadion, ein Mädchen von den Massen erdrückt wurde, hatte die Band ernsthaft darüber nachgedacht, ob man noch weitermachen sollte. Man machte weiter – zunächst mit einer EP und dann mit einem Weihnachtslieder-Album, auf dem ihr bemühter Punk wieder in jene platten Gag- und Gimmick-Gefilde abdriftete, von denen sie sich – so glaubte man zumindest – mit der spirituellen, düsteren CD „Opium fürs föÄ“endgültig verabschiedet hatten. Das neue Album ist eine Gratwanderung, der reizvolle Versuch, die Unbekümmertheit früherer Jahre mit tiefer schürfenden Texte zu paaren, die bis dato keiner von den Töten Hosen erwartet hätte. Es ist ein Patchwork höchst extremer Stimmungen. Campino nippt an seinem Rotwein und spricht von kleinen Ohrfeigen, mit denen sie ihre Hörer immer wieder aufwecken wollten. Der wohl ungewöhnlichste Song ist „Unser Haus“, der ausschließlich von Streicher-Arrangements getragen wird – so man will, das „Eleanor Rigby“ der Toten Hosen. Das meiste davon käme vom Synthesizer, sagt Campino, „aber nicht maljustus Frantz würde den Unterschied erkennen“. Womit er wohl etwas schnodderig davon ablenken will, dass er in dem Lied auf eine bewegend-schlichte Weise beschreibt, wie er ein letztes Mal die Hand seines toten Vaters hält. „Ich will das nicht so hoch hängen“, wehrt er ab. „Ich würde es jedenfalls nicht mögen, wenn jeder glaubt, er könne mir, nur weil er diesen Song gehört hat, sofort in die Seele gucken. Wenn ich solche Texte schreibe, dann nur in der Hoffnung, dass andere Menschen etwas damit anfangen können. Jeder, der seine Eltern verloren hat, weiß, welche Gedanken einem in solchen Momenten durch den Kopf gehen.“ Nein, er will hier keinen Psycho-Talk über die Seelenlage eines Popstars rühren. So gesehen fällt dann auf, dass viele der leichter verdaulichen Hosen-typischen Gassenhauer des neuen Albums erstmals mit Hilfe anderer Autoren entstanden sind. Der Berliner Künstler und Sänger Funny van Dannen hat eine bitterböse Hymne gegen die politisch Korrekten („Lesbische Schwarze Behinderte“) beigesteuert und Campino beim Texten von „Schön sein – und ein bisschen obszön sein“ unter die Arme gegriffen. Ein Joint Venture ist auch jenes Pamphlet gegen den FC Bayern, ein Song, der primär für die Fankurven der Republik geschrieben wurde. „Ich kann es kaum erwarten, den Song in München zu singen, denn der FC Bayern kann diese Verarschung vertragen“, sagt er und gesteht, dass er diesen Song ohne den Kollegen van Dannen wohl nicht so locker-trocken hingekriegt hätte. – Schluss mit lustig, Campino? „Die ernsten Texte stammen alle zu 100 Prozent aus meiner Feder. Funny hat mir geholfen, aus einem Engpass herauszukommen. ,Of>ium…‘ war ja sehr schwer und ernst. Ich wollte den Bogen nicht überspannen und vermeiden, dass jetzt erneut gelästert wird: ,Die Hosen, schon wieder mit dem erhobenen Zeigefinger.“ 4 Das Unterfangen, Beständiges und Wandel zu kombinieren, beschäftigt den Sänger nicht nur in Songtexten wie „Helden und Diebe“. Eine selbstkritische Rückschau, an deren Ende sich die Jungs von der Opel Gang fragen, wie lange es wohl noch dauern wird, bis die Leute brüllen: „Uns reicht’s, wir haben genug.“ So weit ist es nicht. Die Idee, die neue Single zwei Tage lang für kostenlose Downloads ins Internet zu stellen, war zukunftsweisend. Mehr als 100 000 Web-Fans aus 73 Ländern, darunter die USA, Australien, Argentinien und die Kokos-Inseln, haben die Website angeklickt, 40 000 haben sich die Single heruntergeladen, die prompt von 0 auf Platz 9 in die deutschen Charts kletterte. „Noch sind wir nicht in der Altherren-Liga, wir dürfen noch ’ne Runde“, grinst Campino, „aber ich habe keine Ahnung, wie lange das noch weiter gehen solL Eine Frage, die ich mir oft stelle.“ Wenn er heute über Erfolg redet, meint er damit nicht nur die Akzeptanz als Künstler, sondern durchaus auch den kommerziellen Erfolg. Er wäre der Letzte, der heute bestreiten würde, dass die Toten Hosen mit durchschnittlich einer Million verkaufter Tonträger pro neuer CD längst in die S-Klasse der bundesdeutschen Pop-Ikonen aufgestiegen sind. Und er versucht auch nicht mehr, das mit einem Verweis auf die dilettantischen Ursprünge der Band zu relativieren. „Natürlich bin ich erfolgsverwöhnt. Aber hast du mal von mehreren CDs je über eine Million verkauft, dann gilt’s schon als dicke Niederlage, wenn sich eine plötzlich nur 500 000 mal verkauft“, sagt er. „Dann werden dieselben unangenehmen Fragen gestellt, wie bei einem vom Abstieg bedrohten Fußballverein. Im Proberaum kann ich das ausblenden, aber wenn ich hier sitze, dann werd ich schon nervös. Denn sollte es nicht laufen, frage ich mich selbst: Was war los?“ Zweifel, die, und das betont er, nichts mit diffusen Millenniums-Ängsten zu tun hätten. Dem Einwurf, die Hosen hätten ja schon mit „Alles wird gut“ kurz nach dem Fall der Mauer ihren Millennium-Song geschrieben, widerspricht er daher nicht Stattdessen zitiert er laut den Songtext: „Mit einem Stein in der Hand als Souvenir von der Mauer in Berlin, auf dem Weg in ein neues Jahrtausend, es geht nie mehr zurück.“ Der Song sei von der Band jahrelang unterschätzt worden, aber er sei immer noch relevant „Was ich von anderen unserer Lieder nicht mehr behaupten kann.“ Spricht’s und beginnt um inzwischen drei Uhr morgens mit einer kritischen Bestandsaufnahme. „Eisgekühlter Bommerlunder“, die anarchische Fun-Punk-Hymne, sei von der Ballermann 6-Kultur aufgesogen und völlig entwertet worden. Und Agit-Pop-Hymnen wie „Sascha, ein aufrechter Deutscher“ oder „Willkommen in Deutschland“ macht er heute als „hoffnungslos veraltete Scheiße“ nieder. Und auch jenen Kollegen, die sich – wie er selbst immer in den Dienst einet honoris causa stellen, auch wenn sie niemand danach gefragt hatte, steht er eher ratlos gegenüber. Die Teilnehmer von Net Aid, die sich erst die Entschuldung der Drittweltländer auf ihre Fahnen geschrieben hatten, dann aber auch gegen Flüchtlingselend, Kinderarbeit und alles andere Schlechte in dieser Welt ansingen wollten, seien doch unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf die Bühnen gegangen. Ein Desaster, zischt Campino. „Wenn The Clash heute mit ihrem Polit-Rock anfangen würden, hätten sie vermutlich Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Leute wie Bono, die Jungs von Rage Against The Machine und – im kleineren Rahmen – auch ich, haben die Aha-Effekte, die dadurch entstehen, dass sich Musiker in die Politik einmischen, inflationiert In dieser Hinsicht haben wir ausgedient Wir haben uns verausgabt, für die Medien sind wir nur noch die ausgelutschten üblichen Verdächtigen. Das führt dann dazu, dass, wenn wir als einzige Band wieder gegen die Castor-Transporte in Ahaus protestieren, alle das große Gähnen packt – nicht schon wieder die Toten Hosen.“ Plopp – die letzte Weinflasche wird entkorkt, unter den Augen eines jungen George Harrison, der neben seiner Ex-Gattin Patti Boyd zwischen den von der Leiste baumelnden Schöpfkellen hervorlugt Die Frage, was eigentlich relevanten, großartigen Pop ausmacht, erhellt sich auch für Campino primär im Rückblick. Klar, die Beatles waren und sind relevant. Die Hosen haben bisher zwei Beatles-Songs gecovert „I Feel Fine“ und „Tm The Walrus“. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten es ruhig ein paar mehr sein können. Die Hosen als Beatles Revival Band? „Mein Traum war, einmal ein ganzes Album mit Punk-Versionen von Beatles-Songs aufzunehmen.“ Dumm nur, dass ihm da eine Hamburger Band mit dem originellen Namen The Punkles zuvorgekommen ist „Besser kann man’s nicht machen“, sagt Campino und legt die CD der Konkurrenz ein. Während aus den Boxen eine krachende Hochgeschwindigkeits-Version von „Eight Days A Week“ dröhnt, kramt er noch ein Foto-Album hervor, das eine rare Punk-Episode im Leben des saturierten Stars enthüllt Nach einer Blitz-Tournee mit den Ramones und Iggy Pop durch Chile und Argentinien hatte er sich auf ein Pferd gesetzt und war mit ein paar ortsansässigen indianischen Guides über die Bergpässe der Anden von Chile nach Argentinien geritten. Von ständigem Durchfall und wundgescheuerten Gesäßpartien mal abgesehen, gab es während des Ritts noch andere kritische Momente. Als einer der Cantatores ihn bat, zur Gitarrenbegleitung am Lagerfeuer doch ein Lied zum Besten zu geben, konnte er nicht ablehnen. „Sie sagten mir: Du kommst aus diesem Gebirge nicht eher raus, bis du für uns gesungen hast! Mir fiel nichts Besseres ein, als ,Guantanamera‘ zu singen danach haben sie mich nicht mehr behelligt. Das sollte als ein Beleg für die nach wie vor vorhandene abschreckende Wirkung von Punk durchgehen.“ «B