Tocotronic nähern sich auf „K.O.O.K.“ dem Epos an.
Nach drei Platten mit sloganhaften Punkrock-Krachern nähern sich Hamburgs Schüler Tocotronic auf ihrem Doppel-Album "K.O.O.K." dem Epos an. Eine Bestandaufnahme
Um Oliver Hüttmann Für die Produktinanager jeder nur halbwegs großen Plattenfirma wären Musiker wie Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank ein unscheinbarer Alptraum. Sie kleiden sich nicht ein wie jemand, der Popstar werden will und sich als solchen schon vor dem ersten Plattenvertrag begreift, tragen statt dessen verwaschene T-Shirts, Schlaghosen aus Gebrauchscord und abgelatschte Turnschuhe. Gelangweilt blicken sie vom Plattencover, schlichte, überblitzte Polaroidmotive, als hätte Papa die drei Freunde auf einem Kindergeburtstag vor der Wohnzimmertapete geknipst Und die Promofotos fragen Sie mal unseren Graphiker! Aber weil ihr Debütalbum „Digital ist besser“ ‚1995 bei dem eher bescheidenen Hamburger Label LAge D’Or erschien, das noch immer über einem türkischen Gemüsegroßhandel im ersten Stockwerk einer zugerümpelten Fabrikhalle munteren Underground betreibt, war wohl kein Geld da und es auch egal Während die üblichen Ignoranten deren beherztes Akkord-Geschrammel ab schülerhaften Punkrock abtaten und den Erfolg als Zufall abhakten, sprach sich der Name des Trios schnell herum: Tocotronic. Das klingt nach einem Bausatzkasten mit Batterieantrieb, ist aber der elektrifizierendste Ausdruck einer deutschen Band seit Fehlfarben. Da die Weltschmerz-Wucht des Grunge noch nicht ganz verhallt war, dachten einige kurz nach und machten an Stücken wie „Samstag ist Selbstmord“, „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ und „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“ in Tocotronic die vermeindiche XYZ-Generation der Neunziger aus. So kamen sie an Motor Music als Vertriebspartner, der hipsten Firma dieser Republik, die sich gerade mit formschönen Zeitgeistmenschen wie Marusha und später Rammstein veritabel um die Jugend bemühte und in Motor-Shops trendige Mode-Kollektionen verhökert. Trotzdem wollten Tocotronic nicht mit der „Bravo“ sprechen, lehnten dann gar den VIVA-Preis „Comet“ ab. Die Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ war ihnen zu doof. Sie waren gerade Anfang 20. Ein gutes Alter, um Rockgeschichte zu schreiben. Etwa so alt sind auch viele jener Fans, die sich nun in den purpurnen Sitzpolstem des Hamburger Schauspielhauses lümmeln für ein Konzert der mittlerweile nicht mehr ganz so jungen Tocos oder Tocs, wie jene gekost werden. Es sollen die Stücke aus ihrem vierten Album JC.O.OX“ aufgeführt werden, das erst im August herauskommt. Da sie das neue Repertoire vorab – was ohnehin tollkühn ist – schon in Berliner und Münchner Theatern gespielt haben, eilt ihm ein sperriger Ruf voraus. Publikum und Band hätten sich gegenseitig angegähnt, hat die „Süddeutsche Zeitung“ geurteilt. Ein schlechter Tag vielleicht, von wem der Anwesenden auch immer. Dabei argumentierten sie im Affekt. Und wenn der mal in einem „Das ist natürlich leicht gesagt“ endete oder von Lowtzow schmollend „Es ist mir egal, aber so will ich es doch nicht haben“ sang, war dies kein Relativismus, sondern Selbstreflexion. „Die Wut ist natürlich ungerecht“, so von Lowtzow. „Alleine will man auch nicht sein.“ In präzisen Impressionen des Alltags und der Gefühligkeit wurde jeder Widerspruch mitgenommen. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“, trauerten sie, um dann der gängigen Moral vom Erwachsenwerden trotzig „Ich werde mich nie verändern“ entgegenzuschleudern. Tbcotronics Tiraden waren immer auch Identitätssuchen, „ein Prozeß, über die eigenen Zweifel und Ungelenkheiten nachzudenken“, wie von Lowtzow es formuliert. Anders als bei BAP oder den Toten Hosen, die explizite politische Meinungen vor sich hertrugen, trat an Stelle des Objekts ein so barsches wie banges Subjekt. Ein unruhiges Ich, das alles will, vieles möglich macht, aber auch manches offen läßt, „weil wir nicht diese Sicherheit haben“, so Jan Müller, „anderen zu sagen, wo es langgeht“ Trotz Zweifel, die mit einer gewissen Zickigkeit einhergehen, Zauderer sind sie nicht Hauten mit der inneren Energie des Punk einen frappanten Initiationsreigen raus. Jedes Jahr eine Platte, jede mit bis zu 18 rohen Hymnen und kleinen Oden voll, jedesmal subtiler in der Arrangements. „Es ist gar nicht so leicht, Musik zu machen/ Ich verachte Euch zutiefst“, polterten sie bereits in „Hamburg rockt“ von „Digital ist besser“, und entgegneten auf der EP J^adi der verlorenen Zeit“ Kritikern schnaufend: „Es ist einfach Rockmusik!“ Nach den Alben „JVir kommen, um uns zu beschweren“ und Jis ist egal, aber“ legen sie mit „K.O.O.K.“ nun fast ein Epos vor, das wieder einige Debatten evozieren wird. Ihr Sound ist komplexer geworden, hat sich vom knuddeügen Low-Fi und simplizistischen Noise-Pop verabschiedet, ufert in lange Instrumentalparts aus und integriert Syntheziser, Streicher und Seltsamkeiten wie Waldhörnet: Man muß geradezu furchten, nun werde ihnen die berüchtigte Reife attestiert. „Die Frage ist, wann denn dieser Punkt erreicht ist“, sagt Arne Zank. „Und ob das Erwachsensein nicht eher das Nicht-Ereignis ist“ Jedenfalls haben sie einen Punkt erreicht an dem „uns klar wurde, daß die Art unserer bisherigen Platten ja doch ziemlich ausgereizt ist“, sagt Jan Müller. „Da haben wir uns zum ersten Mal Zeit genommen, vorher zu überlegen, wie denn eine Platte klingen könnte. Wir wollten ein – zwar durch die Produktion aufgebrochen – einheitlicheres Songwriting schaffen.“ Tief tauchen sie nun in Stimmungen und Schleifen, in Wellen, Wällen und Wendungen ein, begleitet vom verhaltenen Piano oder elektronischen Klängen. Es ist dennoch wuchtig und wird ergänzt von schleppenden Songs wie „Das Geschenk“ mit einer zaghaften Gitarrenmelodie. Oder das elfminütige Schlußstück „17“: Baß und Schlagzeug geben behutsam den Takt vor, die Gitarre knarzt zögerlich, Hörner schwellen märchenhaft-dunkel an, und von Lowtzow singt über das gespenstische Weihnachts-Gespräch mit einem Freund tränenerstickt: „Heute bin ich glücklich wie niemals zuvor.“ „Auf JZs ist egal, aper’haben wir für uns alle Haßstücke und Protestsongs befriedigend beendet“, so von Lowtzow. Jetzt wollten wir die Texte weiter öffnen, mehr ins Erzählerische, früher eindimensionale Positionen in verschiedene Persönlichkeiten aufsplitten.“ Das macht ihre Leidenschaft um so rätselhafter, zumal Tocotronic noch nie daran gelegen war, ihre Texte zu „entmystifizieren“, wie Müller es nennt Daher wurden die Lyrics nie abgedruckt Legitimiert ist allerdings eine Exegese eines Freundes, die als Steinbruch herhalten darf. Der Wiener Filmdozent filtert Peter Frampton, Thin Lizzy, Pixies, Dinosaur Jr, Sonic Youth, Dead Kennedys, Horror-Regisseur Dario Argento, Bunuel, Deleuze, Foucault, Benjamin, Debord, Grab heraus. Da ist man baff. JLO.OJCist eine Zitaten- und Rätselplatte. Der Titel wird klarer, indem man so betont, daß man „Knock out, okay“ sagen könnte. Dann folgt die Zeile: „That’s what we say/ We’re rocking that way.“ In Jackpot“ heißt es: „Wir sind raus und stolz darauf.“ Und für JLet There Be Rock“ haben sie AC/DC belehnt „Der Song ist eine Collage und wir wollten dafür einen Titel, der von der Rockgeschichte besetzt ist“, so von Lowtzow und singt: „Wir haben gehalten/ In der langweiligsten Landschaft der Welt/ Wir haben uns unterhalten/ Und festgestellt, daß es uns hier gefallt/ „Und alles, was wir hassen seit dem ersten Tag/ Wird uns niemals verlassen, weil man es eigentlich ja mag/ -Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“ Trist dröhnen die Hörner. Rock und die letzte Rebellion. Ein Hohn? Auch AC/DC ist nicht drin. Dafür erschallt verzerrt die Fanfare aus Europes „The Final Countdown“. „Wir wurden gefragt, ob das eine Parodie auf solche Bands ist“, erzählt von Lowtzow, der auf dem „Digital „-Cover ein Kiss-T-Shirt trug. Das Cover ihrer Single wurde montiert aus Motiven von Hüsker Düs J^ew Day Rising“md Kenneth Angers Underground-Film „Lucifer Rising“. Ihr Produzent und Chef Chris von Rautenkranz posaunte, dies sei „die letzte Indie-Rock-Platte“, während von Lowtzow das 70 Minuten lange Doppel-Album amüsiert als „wertungsfrei: Meisterstück“ charakterisiert „Also, wir hören AC/DC sehr gerne“, meint Zank. Und wenn Blumfeld live Van Halens Jump“ spielen, sei es der „gleiche Gestus, über den Bretterzaun zu blicken“, sagt Müller. „Was aber kein Aufruf für amtlichen Rock‘ ist Dessen Bedeutung ist gegenüber elektronischer Musik zu Recht zurückgegangen.“ „Wollen wir nicht vor die Bühne gehen – rocken?“, fragt eine junge Frau kurz vor Konzertbeginn ihre Freunde. Und dann rocken Tocotronic