Stimmen, die Brasilien hört
Caetano Veloso und Chico Buarque. Zwei Musiker, Komponisten, Sänger, Schriftsteller, Dichter, Künstler, Superstars, Legenden, Brasilianer. Zwei, die nach ihren über 3Ojährigen Karrieren in Brasilien als Volkshelden gelten und dort mit Konzerten mühelos Fußballstadien füllen. Zwei, die zu Hause goldene Schallplatten stapeln: für etwa 20 (Chico) bzw. 30 (Caetano) Alben, die heute zum überwiegenden Teil als Klassiker gelten. Zwei, die sich mit Brasiliens ehemaliger Militärjunta anlegten und zwei Jahre im Exil verbrachten. Zwei, die unzählige Songs für andere Interpreten, Soundtracks und Kollaborationen geschrieben haben. Zwei, die jeder für sich so etwas wie John Lennon und Jimi Hendrix in einem sind, nur daß sie überlebt haben und weitermachen. Zwei Männer über 50, die heute weltweit als die größten lebenden Songwriter ihres Landes gelten. Zwei Typen, die hierzulande kaum einer kennt. Und über die hier alles Wissenswerte auf nicht mal einer Seite zusammengefaßt wird? Vergiß es!
Dafür ist da einfach zuviel. Zuviel Musik. Zu viele musikalische Richtungswechsel. Zuviel Geschichte. Zu viele Anekdoten. Ein Beispiel?
Chico Buarque wird für einen Sommer in Deutschland berühmt: „Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen“ trällerte France Gall in den goldenen Sechzigern, und die Germanen lachten schallend, denn das ist doch lustig, das Lied über die Neger mit den tropischen Früchten und sonst nackt, so wie das eben ist, da im Busch, nich‘ wahr Heinz? Nur hieß die Originalversion „A Randa, war ein Karnevalslied von Buarque und hatte ursprünglich einen etwas anders klingenden Text: „Das traurige Mädchen, das immer schwieg, lächelte/ Die traurige Rose, die geschlossen war, öffnete sich/ und alle Kinder kamen aufgeregt an/ Weil die Musikkapelle vorbeizog/ Und etwas über die Liebe spielte.“ Solch Poesie zur Rummelplatz-Nummer zu verballhornen, macht dann eher einen Heinz zum Neger.
Nun ist mit „Chico Total“ (Motor) erstmals in Deutschland eine „Best Of“ des ehemaligen Architekturstudenten erschienen: eine Platte, die gar nicht erst den aussichtslosen Versuch unternimmt, einen repräsentativen Überblick über die Karriere des 53jährigen zu geben, sondern in durchgehend wunderschönen Nummern eine Bogen schlägt von den traditionellen, Samba-orientierten Songs der Sechziger über die behutsamen Experimente der Siebziger bis zum Edel-Liedgut der Achtziger. Neben den wirklich interessanten Linernotes erfreut besonders, daß alle Texte in deutscher Übersetzung beiliegen. Da erfahren endlich auch diejenigen, die seinen Roman „Der Gejagte“ (Rowohlt) leider nicht gelesen haben, warum Chico Buarque als ein großer Wortschmied gilt. Auch Caetano Veloso ist ein hoch angesehener Lyriker. Sein letztes Buch allerdings, bisher nur im portugiesischen Original erhältlich, ist dokumentarisch: Es berichtet vom „Tropicalismo“, einer brasilianischen Bewegung, die dieses Jahr ihren 30. Geburtstag feiert, und zu deren Hauptfiguren neben dem 55jährigen auch der Brasilstar Gilberto Gil und David Byrnes Liebling Tom Ze gehörten. Tropicalismo war, kurz gesagt, eine intellektuellere Version der Hippiebewegung, die unter anderem die Verbindung traditioneller brasilianischer und angloamerikanischer Popmusik vorantrieb, und die auf die MPB(Musica Populär Brasilieira) einen ähnlichen Einfluß hatte wie etwa Jimi Hendrix oder „Sgt. Pepper“ auf die Rockmusik. In den Siebzigern ließ Caetano allerdings wissen, daß er nicht mehr zu den modernsten Menschen gehören wolle: „Ich will lieber zeitlos sein.“ Doch das war wohl eher eine Laune.
Denn auch die neue LP „Livro“ (Motor) zeigt den Musiker wieder einmal in seiner unberechenbaren Bestform: Verschachtelte Melodien mutieren via Percussion und satten Bläsersätzen zu leichten Poptrillern, ein Drum’n’Bass-Kommentar wird von einem Sambaklassiker gefolgt. Sicherlich eines seiner besten Alben, dem überdies ein Kommentar Caetanos und eine deutsche Textübersetzung beiliegen. Wem das nicht reicht, dem sei die sehr gute LP „Sem Lenco Sem Documento“ ans Herz gelegt. Danach wird man wohl Arto Lindsay zustimmen: „Es ist eine immense Freude, Caetano zu hören. Er schafft es, uns zu zeigen, daß jenseits der hektischen Genüsse Schönheit und wahre Freude existiert.“