Goldie – Pate des Drum’n’Bass
Mit dem Ausschlachten seiner bunten und leidensprallen Biographie hofft GOLDIE sich als „Pate des Drum'n'Bass" selbst zu übertreffen — ein zwiespältiger Versuch.
Goldie liegt auf der Couch. Die Beine ausgestreckt, den Kopf auf der Lehne. Und er redet. Ohne Unterlaß, nur über sich selbst: „Mein Leben ist wie ein Buch, und ich werde einfach nicht müde, darin zu blättern. Mann, ich verbringe ganze Nächte damit, darin zu blättern!“
Und bei Goldie, dem düsteren Propheten des Drum’n’Bass, ist immer Nacht. Deshalb blättert er und blättert er. Und wenn es ihm gutgeht, weil er gerade jemandem die Fresse poliert hat, läßt er dich mit hineinschauen in das Buch seines Lebens. Dann erzählt er vom Vater, der einfach abgehauen ist, und von der Mutter, die ihn weggegeben hat, und von den Heimen, in die sie ihn gesteckt haben. Dann schaut er traurig von der Couch zu dir hoch, und du würdest ihn gerne drücken, wenn du nicht wüßtest, daß dies eine ziemlich unangemesse Annäherung wäre an jemanden, den sie auch den Paten des Drum’n’Bass nennen und der ein paar Unzen Gold im Mund trägt und noch einmal doppelt so viel als Kette um den Hals.
Deshalb hörst du einfach weiter zu: „Ich erinnere mich noch genau, wie unglücklich ich als Kind gewesen bin. Ich bin immer wieder aus den Heimen und von meinen Pflege-Eltern abgehauen, da war ich dann ganz für mich allein. Der Song JDragonfly‘ auf dem neuen Album handelt davon. Mann, ich habe damals in der Einsamkeit echt diesen fliegenden Drachen gesehen, und ich sehe ihn heute noch immer. More beautiful than ever. Ist eben alles eine Sache des Willens.“
Wille ist ein wichtiges Wort für Goldie, der seine Kunst als totalitäres System betreibt und, wie neulich, während DJ-Sets auch schon mal sein Konterfei auf riesige Leinwände projezieren läßt Andere wichtige Worte: Manipulation und Kontrolle. Einmal sagt er: Jeder findet in meiner Musik seinen Platz. Ehrlich gesagt macht es mir manchmal Angst, wie leicht ich mit den Leuten kommuniziere – und wie einfach ich sie manipulieren kann.“ Ein anderes Mal sagt Goldie: „Ich baue, ich kalkuliere, ich kontrolliere. Ich sehe mich als Architekten, der weiß, daß er ein stabiles Fundament braucht für all die Bauten, die er darauf errichten will. Schließlich habe ich ein Gesamtkunstwerk im Kopf.“
Dieses Gesamtkunstwerk ist er selbst. Denn Leben und Werk lösen sich bei Goldie bis zur Unkenntlichkeit ineinander auf. Seine Fähigkeit zur Massenmanipulation hilft ihm dabei, noch mehr aber seine Fähigkeit, sich selbst zu manipulieren. Sein neues Werk, ein Doppel-Album mit nicht weniger als, ja, zweieinhalb Stunden Spieldauer, heißt „Saturn? Return“. Ein Begriff, der in der Astrologie einen Vorgang beschreibt, durch den Menschen um die 30 zu sich selbst finden, und deshalb greift Goldie, der nun Anfang 30 ist und seine Selbstfindung (inklusive Wiedervereinigung seines schwarzen Vaters und seiner weißen Mutter) gerade hinter sich hat, in die Therapiekiste.
Mit jedem seiner Songs baut er eine Brücke zu einem Menschen oder eine Phase aus seinem Leben: „I’ll Be There For You“ ist an seinen Bruder gerichtet, der die meiste Zeit seines Lebens im Knast verbracht hat; „Letter Of Fate“ ist an eine andere große Einzelgängerin adressiert. An Björk, mit der er bis vor zwei Jahren eine glücklose Beziehung hatte und die das Stück ursprünglich singen sollte. Jetzt singt Goldie es selbst, das klingt rührend.
Und dann ist da noch „Mother“. 60 Minuten Sternenstaub und Streicherschwaden, jedoch kaum Beats. Das ist das längste Stück der Pop-Geschichte, da braucht man mit Superlativen wirklich nicht zu geizen. Findet auch Goldie selbst, der zu jenen Menschen zählt, die Bescheidenheit als Schwäche deuten: „Dieser Song ist das Universum, die Seele von allem, was ich bisher geschaffen habe. Er ist die Mutter, die ich nie gehabt habe; er ist die Geborgenheit, die mir nie vergönnt gewesen ist. „Mother“ bringt mich zurück in den Mutterbauch, den wohl einzigen sicheren Ort, an dem ich mich je aufgehalten habe.“ Sagt der Mann tatsächlich so, und daß kaum noch Breakbeats zu hören sind, ficht ihn auch nicht an.
Die Frage, ob das alles noch Drum’n’Bass ist – oder Breakbeat, wie der Künstler selbst das Genre nennt -, muß erlaubt sein, und erlaubt sein muß es auch, sie mit „Nein“ zu beantworten. Das hat weniger mit technischen Mitteln zu tun als damit, wie diese eingesetzt werden. Denn unter Goldies Händen wurde Drum’n’Bass in dem Maße zu Pop, in dem er die übergegenständliche Narrationsformen des Fachs mit klassischen Images vertauschte. Und diese dann auch noch in epischer Breite ausformulierte. So legte er 1994 mit seinem Debüt „Timeless“ das erste Album des Fachs vor, das zuvor ausschließlich über den schnellen und wenig überschaubaren Auswurf von 12inches funktionierte.
Goldie, der mit HipHop aufgewachsen ist, kam erst relativ spät zum Breakbeat. Künstler wie Kemistry And Storm oder Grooverider haben schon vor ihm wichtige Pionierarbeit geleistet. „Und ich preise sie dafür. Ich weiß, wem ich was zu verdanken habe. Aber ich habe Breakbeat auf eine universalere Ebene geführt.“
Goldie nahm Drum’n’Bass das Abstrakte, füllte es mit der wohlbekannten Emblematik des leidenden Individuums (schon auf „Timeless“ referierte er zum Beispiel auf Marvin Gayes „Inner City Blues“). Das ist nicht so verwerflich, wie es jetzt alle behaupten werden. Und nichts ist billiger, als diesen immer ein paar Nummern zu dick auftragenden Meister der Selbstinszenierung in die Pfanne zu hauen. Sicher, die Grenzen des guten Geschmacks werden von ihm weit überschritten, aber seit wann hat Pop etwas mit gutem Geschmack zu tun?
Nicht die Stilisierung seiner Person zum Heiler und Heiligen ist verwerflich. Im Gegenteil, die wird so konsequent wie kurzweilig betrieben. Was man Goldie vorwerfen kann, ist der Versuch, sein privates Martyrium über eine prominente Gästeliste zur universalen Angelegenheit zu erheben. Auf „Saturnz Return“ treten in Erscheinung: Noel Gallagher, KRS-One, David Bowie – die Galionsfiguren von Rock, HipHop, Glam. Das Stück mit KRS-One macht schon biographisch Sinn, immerhin verließ Goldie einst seine triste Heimatstadt Heathtown im englischen Wolverhampton, um als Sprayer in New York zu agieren, und der Hidden Track mit Bowie (zu finden auf CD zwei nach „Mother“) ist ihm immerhin sehr kunstvoll geraten. „Temper Temper“ jedoch, die von Gallagher auf unterstem Niveau zerrockte Eröffnungs-Nummer, nervt ganz schrecklich.
Manchmal könnte man glauben, daß Goldie an anderen Menschen sowieso nicht richtig interessiert ist, die scheinen nur Figuren in einem Strategiespiel zu sein. Doch zu welchem Zweck, mit welchem Ziel? Teleologisch muten seine Entwürfe an, doch in Wahrheit ist Goldies geblähter Kosmos ein Windbeutel. Die Welt als Nabel. Irgendwann erhebt er seinen Kopf von der Lehne der Couch und fragt: „Was soll an Narzismus so schrecklich sein? Vielleicht ist Eigenliebe ja die reinste Form der Liebe. Vielleicht die einzige. Der Satz ‚I love you‘ klingt doch einfach lächerlich – so was sagt man zu seinem Hund.“