res rocket surfer – Eine neue Software macht’s möglich: Globales Jammern im Internet

Alles begann mit einer gelben Postkarte mit der kryptischen Aufschrift: „Avatar awakes here“. Ich bekam gleich zwei. Eine ins Tonstudio, das ich derzeit manage, und eine an die Adresse meiner Produktionsfirma. Ab in den Papierkorb, da mich schon das Logo der Karten stark an WG-Sitzungen erinnerte, bei denen damals Zeichen und Schriften gedeutet wurden.

Dann die nächste Postkarte. Diesmal blau und mit folgender Aufschrift: „What people are going to be selling more of in the future is not pieces of music but systems by which people can customise listening experiences for themselves“ – Brian Eno.

Und kurz darauf der Anruf eines Bekannten vom ROLLING STONE, der auch mit den mystischen Postkarten bedacht worden war. Die RS-Redaktion hatte obendrein noch diverse Anrufe einer englischen Dame bekommen, welche sehr überzeugend die absolute Sensation auf dem Kommunikations-Sektor ankündigte: eine Musik-Software, mit der jeder via Internet jammen könne.

Da ich Musiker bin und bereits seit einigen Jahren in den Netzen surfe, kamen die ROLLING STONE-Leute und ich überein, daß das ein Fall für mich sei. Ergo befand ich mich am 25. Juli auf dem Flug nach London, der Homebase der „res rocket surfer“, deren Software mit dem klangvollen Namen „D.R.G.N.“ (ausgesprochen: Dragon!) ich vor Ort „live and involved“ miterleben sollte.

Auch die generöse Einladung der „res rocket surfer“-Macher änderte nichts an meiner Skepsis, denn eine Vorab-Info (plus ein Besuch der dafür eingerichteten Website www.resrocket.com) verhießen folgendes: Es gibt da eine Software, die es möglich macht, mit musikinteressierten Menschen aller Ländern gemeinsam übers Internet zu jammen – und das gar in Echtzeit. Voraussetzung: ein Computer (Mac/PC/ Unix), eine Sound-Card und/oder ein MIDI-fahiges Klangmodul mit und ohne Kontroller-Keys, und natürlich ein Internet-Anschluß. Die Software ist so ausgerichtet, daß sie auf Basis des MI-Dl-Standards GM eine allgemein verwendete Grundbelegung der Stimmen/Klänge verwendet, die es ermöglicht, daß etwa eb Drum-Part von den am Jam Beteiligten auch als ein solcher „erhört“ wird. Eine wichtige Voraussetzung, denn nichts nervt mehr bei computergestützten Kompositionen als z. B. ein Bass, der Streichersounds spielt – Truth or fiction???

In Heathrow wurde ich von einem Herrn namens Wallace Jacobs empfangen, der eine Zeitung mit Titel „Internet Now“ unterm Arm trug. Auf der Fahrt zum MUSE- Headquarter, dem Studio der „res rocket surfer“, kam ich mit ihm ins Gespräch. Natürlich ging’s ums Internet. Er war erst seit kurzer Zeit im virtuellen Raum, voller Fragen und Problemschilderungen, aber gewillt, die Klippen der ersten System-Installationen zu umschiffen.

Im HQ angekommen, ging’s hinein ins Penthouse-Studio von Willy Henshall, Songschreiber, Produzent und Computer-Wiz und Tim Bran, AUround-Talent, Produzent und Mitglied der Band Dreadzone. Als Net- und Mailbox-User sind beide bestens vertraut mit allen modernen Kommunikations-Möglichkeiten. Während eines kleinen Plauschs mit den beiden britischen SoftwareUrhebern kämpfte in San Francisco Co-Writer Matt Moller gegen den Schlaf; der vierte im Bunde, Schnittstellen-Entwickler Canton Bekker, war in Chicago nicht zu erreichen. Doch die übrigen drei waren beseelt von all den Möglichkeiten und den hörbaren Resultaten ihres Programms, das auf dem Bildschirm nicht nur elegant ausschaut, sondern auch problemlos zu bedienen ist. Und immer wieder tauchte der Begriff „globale Gemeinschaft“ auf, der Wunsch nach Jammen auf „Weltniveau“.

Die „res rocket surfer“-Crew legt Wert auf die Feststellung, daß ihre Software durch die Plattform-Unabhängigkeit des Internet keinerlei Bindung an bestimmte Soundprogramme hat. Einzige Voraussetzung ist das Vorhandensein einer Klangquelle, ob PC-SoundCard oder Quicktime Musical Instruments für Macs.

Dann aber kam die Stunde der Wahrheit: Als langjährig (in Ermangelung realer Mitspieler) sequenzender Komponist, kannte ich die Oberfläche bereits vom Entwickler Cubase und hatte daher keine Orientierungsprobleme. Nach Einwahl per Modem oder ISDN übernimmt D.R.G.N. die Führung durch verschiedene virtuelle Studios (momentan etwa 32), in denen Leute aus diversen Ländern miteinander jammen. Man kann per Audition-Funktion „reinhören“ was gespielt wird, und je nach Besetzung klingt’s mal cool, mal big.

An diesem Tag sollten aber nur zwei Menschen Zeugen der Premiere werden: Dr. Klaus Manhart vom „Internet Magazin“ saß bei Tim am PC, während ich in Willys Suite am Keyboard saß und gleichzeitig mit einem begabten Pianisten aus Chicago namens Zoggo, einem Drum’n‘-Bass-Programmer aus Hüll, und einem Keyboarder aus Luxemburg aus anfänglich acht Takten Jam bereits einen 16 Bar Groove gebastelt hatte.

Summa summarum: Es war faszinierend, anregend, aufregend, und innovativ. Es hat mich überzeugt, es funktioniert hervorragend, aber natürlich ist’s nicht umsonst: Wer „res rocket surfer“-Mitglied wird, kriegt eine kostenlose Kopie der D.R.G.N.-Software und darf dann zunächst zehn Stunden umsonst in den virtuellen Studios aller Herren Länder mitjammen. Wen das überzeugt, der kann fortan überall musikalisch mitmischen, bekommt jede technische Online- und e.mail-Hilfe – und zahlt dafür schlappe $ 14.95 pro Monat.

Not a bad deal. Was ich leider Wallace auf meiner Rückfahrt nach Heathrow nicht bestätigen konnte. Der mußte zu Hause seinen Sohn davon abzuhalten, ihm neue Software zu installieren: „Der bringt alles durcheinander, und ich kann nicht in Ruhe surfen.“ Wallace ist 65.

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