Das Kraut der frühen Jahre
"There's something going on here - but we don't know what it is." Schrieb 1972 der "Rolling Stone" über Rolf-Ulrich Kaiser und die von ihm initiierte Krautrock-Szene. Was jahrzehntelang als teutonische Marotte belächelt wurde, erfährt nun - vor allem im Ausland - eine bizarre Renaissance. An Kaiser selbst aber geht die Kraut-Spätlese vorbei: Gemeinsam mit dem "Sternenmädchen" Gille ging der Kapitän der Kosmischen Kuriere auf einen Trip zu viel
Neulich habe ich DJ Bobo im Fernsehen gesehen – der erinnerte mich äußerlich irgendwie an RolfUlrich Kaiser. „Henryk M. Broder, „Spiegel“-Autor und 1968 Mitinitiator der Essener Songtage.
„Damals gab es ja noch keine Anrufbeantworter, und oft genug hat Kaiser mich nachts angerufen, weiter wieder eine neue Idee hatte. Anfangs habe ich gedacht: Das ist Rock’n’Roll Aber irgendwann will man auch mal wieder in Ruhe schlafen…“ Ulli Rützel, 1972 Productmanager des „Pilz“-Labels.
„Wir haben allerlei Trips zusammen geschmissen. Er hatte seine Schwierigkeit damit, lief anfangs wie ein Raubtier in einem engen Käfig herum und konnte die Gitterstäbe zwischen Realität und psychedelischem Bewußtsein nicht durchbrechen. Nach einer Stunde wurde er dann ganz friedlich.“ Jürgen Dollase, Kopf der Kaiser-Band Wallenstein.
„Die Kosmischen Kuriere bringen neuartige Platten… Blues und Rock, aber auch Synthesizer. Berlin Electronic Rock. Mit von der Partie ist eine Negerin. Aus Afrika. Wir wissen nicht einmal, wo sie zur Zeit wohnt.“ R. U. Kaiser 1973, Pressekonferenz der Kosmischen Kuriere in Zürich.
„Er war ein Anmacher, wenn es um Arbeit ging, wie ein Firmenchef, der seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen treibt.“
Reinhard Hippen, Leiter des Deutschen Kabarett-Archivs, Mk-Inkiator der Essener Songtage.
„Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß die großsprecherische Art (Kaisers) in hohem Maße geeignet ist, die… ihm angeschlossenen Musiker bei einem nicht unerheblichen Teil der Fachkreise… lächerlieh zu machen.“ Urteil im Namen des Volkes, Landgericht Berlin, 6. Mai 1974.
Was vor fast 25 Jahren als erster Skandal in der noch jungen deutschen Rock-Geschichte hohe Wellen schlug, erscheint heute als trippige, triviale Tragikomödie, die erst in die Pleite, dann in die Psychose führte. Hauptakteure: Rolf-Ulrich Kaiser und seine Freundin, „Sternenmädchen“ Gille Lettmann.
Kaiser, 1943 geboren, war Mitte der 60er Jahre ein Teil jener Bewegung, in der Links-Sein und Musik zusammengehörte. Und er war ein fleißiger Mensch. Von Köln aus veröffentlichte er ein Dutzend Bücher. Sie handelten von Kommunen und Musik, erschienen in HinterhofVerlagen – „Kinder der Geburtstagspresse“ – oder bei den ganz Großen – Econ oder Kiepenheuer 8i Witsch – und hießen „Zapzapzappa, das Buch der mothers ofinvention“, J’rotestfibel“, „Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!“ oder auch mal hübsch brav „Das Buch der neuen Popmusik“. Viel Papier, viele Worte – das war es sicher, was Kaiser stets am besten konnte.
Richtig bekannt wurde er im September ’68, noch nicht als Person, aber mit seinem Großprojekt „Internationale Essener Songtage“. Vergleichbares hatte es noch nie auf BRD-Boden gegeben, ein großes Festival, auf dem nationale Größen aller Klassen, ob Amon Düül, Peter Brötzmann oder Hans-Dieter Husch auftraten, aber vor allem die Stars der internationalen Subkultur, The Fugs – und zum ersten Mal in Deutschland: Frank Zappa And The Mothers Ofinvention.
Kaiser, mit Brille und etwas pausbäckig, also sicher keine charismatische Erscheinung, muß damals von großer Überzeugungskraft gewesen sein, weil es ihm einerseits gelang, Zappa, der doch auf alles Großbürgerliche schiß, ausgerechnet nach Essen zu locken, die Stadt der NaziRüstungsindustrie – und andererseits bei Hans Nieswandt, dem ehrenwerten, aber erzkonservativen SPD-Oberbürgermeister, mehrere 100 000 Mark loszueisen – für diese obskure Versammlung langhaariger Hasch-Brüder. Ein verwirrendes, manchmal verworrenes Ereignis, das selbst Zappa ratlos machte: „Das Publikum scheint sich hier nicht entscheiden zu können, ob es über Musik diskutieren oder Musik hören will.“
Rolf-Ulrich Kaiser selbst wirkte zwischen all den Berühmtheiten wie ein aufgeregter Oberschüler mit roten Ohren, der einem Fernsehreporter erzählte, er sei ganz high von all den wunderbaren Dingen, die sich hier ereigneten. Ohne Zweifel: Essen war der Anfang aller Festivalund Rockkultur in Deutschland.
Henryk M. Broder, damals neben dem Musiker Bernd Witthüser, dem Graphiker Reinhard Hippen und dem heutigen SWF-Redakteur Tom Schroeder einer der Mit-Macher in Kaisers „Dilettanten-Gang“: „Er hatte viel Schwung, aus dem Nichts etwas aus dem Boden zu stampfen. Es war seine Show. Dabei war er unglaublich spießig, cholerisch, sah ungesund und bläßlich aus. Die Essener Songtage waren ein großes Abenteuer, aber miserabel organisiert. Deswegen fehlte auch am Ende Geld in der Kasse – nicht etwa, weil es jemand geklaut hätte. Aber schon da witterte Kaiser Verschwörung. Außerdem war er ein völlig amusischer Mensch, der keine Melodie nachpfeifen konnte.“
Beste Vfaraussetzungen also, deutscher Popmusik zu Weltgeltung und Millionenumsätzen zu verhelfen, kurzum: Größer als die Beatles sollten die hiesigen Bands werden, und Kaiser war bereit, alles dafür zu tun. Daß am Ende alles falsch war, ist nicht seine Schuld. Ihn bestrafte die Geschichte: Er war ein Mann, der zu früh kam. Er war der Vorläufer von Frankie Goes To Hollywood und Margarete Schreinemakers: Es gibt nichts zu erzählen – das aber möglichst laut. Rolf-Ulrich Kaiser war der Erfinder von Hype und Promotion in Deutschland. Wo Werbefotograf Charles Wilp das miefige Land in den Afri-Cola-Rausch trieb, warb Kaiser für „akustisches LSD“. Leider kannte er sich mit der Dosierung nicht aus.
Derweil verlor im studentenbewegten Berlin der ausgehenden 60er Jahre der Produzent Peter Meisel ein bißchen die Lust, Jahr für Jahr nur – wenn auch immens erfolgreich – Nachschub für die deutsche Schlagerparade auf den Markt zu bringen. Für sebe „Hansa“-Musikproduktion begann er, Gruppen mit seltsamen Namen zu verpflichten: Xhol Caravan, Tangerine Dream oder Birth ControL Marketing-Mann Hans Blume erinnert sich: „Als wir die erste Session mit Amon Düül machten, war das größte Problem, für die Band in Berlin Zimmer zu bekommen. Kein Hotel wollte mit .solchen Leuten‘ etwas zu tun haben.“
Auftritt Kaiser. „Der erschien uns wie ein intellektueller Visionär, der sich zum Papst der neuen deutschen Popmusik berufen fühlte“, so Blume. Eine unheilige Allianz sollte geschlossen werden: Kaiser, der als Musikjournalist in all seinen Veröffentlichungen gegen Kommerz und Establishment zu Felde zog – und Peter Meisel, der ja nun eigendich gerade diese Werte verkörperte. Man muß sich das klarmachen: Rockmusik und Geldverdienen, dazwischen lagen zu jenen Zeiten ideologische Ozeane. Und nun auf einmal beides zusammen. Was sollte das werden? „Ohr“!
Meisel und Kaiser traten am 1. Juni 1970 mit ihrem gemeinsamen Label an die Öffentlichkeit. Sechs Wochen später titelte der „Spiegel“: „Zirpt lustig“ und verriß „milden Meditationsklang, elektronischen Sakralmusik-Verschnitt und bestenfalls passablen Beat“. Aber es zirpte nicht nur, es zuckte auch bei allen Medien, ob „Stern“ oder „Twen“. Der Label-Name, das „Ohr“-Logo und der ebenfalls von Reinhard Hippen kreierte Slogan „Macht das Ohr auf.“ leiteten eine unerhörte PR-Kampagne ein, die Kaiser mit Besessenheit vorantrieb. Eine verdammt stabile Seifenblase, die dreieinhalb Jahre lang nicht platzte. Presseberichte selbst arrivierter als auch kritikfahiger Kollegen belegen, daß alle zwar zweifelten, aber niemand so richtig wußte, ob nicht vielleicht doch was dran war an Kaisers neuen deutschen Popkleidern.
1971 lag der LP-Umsatz einheimischer Gruppen bei lächerlichen 0,5% gegenüber internationalen Acts – Kaiser wollte innerhalb von Monaten die Verhältnisse umdrehen und seine deutschen Bands zu Weltstars machen. „Sein Büro hier in der Witteisbacher Straße war eine Papierfabrik“, sagt Hans Blume, „so kann man doch keine Musik verkaufen, dachten wir. Als jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht, hatte ich ziemlich schnell den Verdacht, daß das nicht gutgeht. Und zu Meisel sagte ich: Peter, du mußt den bremsen!‘ Aber wenn man bei der Schallplatte war wie wir, wollte man ja auch immer Neues probieren, und es hätte ja sein können…“
Zuerst sah’s auch so aus: Die „Ohr“-Gruppen Tangerine Dream, Birth Control, Guru Guru oder Floh de Cologne zeigten achtbare Ergebnisse; Meisel SC Kaiser wurden nicht müde zu erklären, in den ersten beiden Jahren habe „Ohr“ über den Vertriebspartner Metronome 250 000 LPs verkauft, und eine Tournee von Floh de Cologne sei von 300 000 Menschen besucht worden – Zahlen, die wegen fehlender Verifizierung durchaus ernst genommen wurden. Im „Erfolgs“rausch bauten Meisel und Kaiser ihre Basis aus und gründeten ’71 ein zweites Label namens „Pilz“, mit dem der Tonbandhersteller BASF als Vertriebspartner für ein paar Jahre ins Plattengeschäft einstieg. „Hört den Sound der Pilze!“, raunte plumppsychedelisch die PR-Maschinerie. Intern gab’s Kopfschmerzen. Blume: wt Pilz‘ war das nötige Ventil, Kaisers Karnickel-Produktion zu kanalisieren. Nach anfanglichen ,Ohr‘-Erfolgen brachte er immer neue und immer unverkäuflichere Bands an, so daß unser Vertriebspartner Metronome etwas flügellahm geworden war.“
Bands wie Hölderlin, Bröselmaschine und Wallenstein sorgten auch bei „Pilz“ wieder für achtbare Anfangserfolge. BASF-Mann Ulli Rützel (heute „Erdenklang“): „Kaiser war enorm begabt, was PR und Marketing anging, und wir fanden das ganz toll, wie da einer eine vollkommen langweilige deutsche Musikindustrie gründlich entstaubte.“ Kaiser verstand es weiterhin mit Geschick, alle Wünsche und Ängste der Medien zu bedienen. Die Hölderlin-Musiker etwa ließ er zusammen mit ihren Eltern auf Pressefotos posieren, und dazu fabulierte er in den Bildunterschriften: „Muß Popmusik alte Leute, insbesondere Eltern erschrecken? Die Folkrock-Band Hölderlin beweist das Gegenteil. Ein Vater, Direktor eines großen Werkes, gibt Geld für die teure Verstärkeranlage. Eine Mutter steht auf Jimi Hendrix.“
Und, Negation der Negationen, Popmusik muß alte Leute erschrecken, insbesondere Eltern. Deshalb wurde Mönchengladbach zum Epizentrum der deutschen GroupieiSzene erklärt: Becken-Beben am Niederrhein. Willige Opfer zügelloser Begierden: die Band Wallenstein. In Kaisers monatlichem Pressedienst „deutsche popszene“ schrieb Band-Chef Jürgen Dollase: „Nach wenigen Minuten verließen Jerry (Berkers, der Sänger) und ich das Lokal und fuhren in die Wohnung der jungen Dame. Sie zog sich aus, wir probierten ihre Kleider durch, tranken Tee (Jerry in entzückendem Minirock, ich in einem Cocktailkleidchen), und dann ging’s ins Schlafzimmer, das nur aus einem Bett bestand. Die ersten Nummern machten wir zusammen, später abwechselnd. Eine nette Szene blieb mir in Erinnerung: Ich kam aus der Küche zurück, da hatte der schmächtige Jerry die große und mächtige Frau gegen die Wand gestemmt, sie stand gar nicht mehr auf dem Boden.“
Je größer die Empörung (oder der Neid), desto mehr solcher Stories. Dollase, heute Künstler und seit langem nicht mehr im Musikgeschäft, erinnert sich: „Natürlich waren die Geschichten erfunden, aber sie hätten durchaus passieren können. Es herrschte damals eine Promiskuitär, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Nur bei Kaiser selbst und seiner Freundin wirkte alles äußerst unerotisch. Gille wollte von allen geliebt werden, aber nur als ,Sternenmädchen‘. Als wir uns im Studio mal einen Porno anschauten und Kaiser das mitkriegte, hat er sich tagelang nicht davon erholt, weil das seine Visionen besudelte.“
Henryk M. Broder beschreibt Gerlinde „Gille“ Lettmann, gelernte Modedesignerin, als „graue Maus, nach der man sich in der Straßenbahn nicht umdrehen würde“. Deswegen kann sich auch niemand erinnern, wann sie in Kaisers Schlepptau auftauchte. Mitte der 70er Jahre wird sie ihn jedenfalls in der Öffentlichkeit ablösen, ihre eigene Identität ablegen und sich nur noch als „Sternenmädchen“ anreden lassen (solange sie noch ansprechbar ist). 1972 treten sie stets als Paar auf, völlige Symbiose. Dies ist die Zeit, in der alle Grenzen zu verschwimmen beginnen, in der Dieter Dierks, bei dem die meisten Kaiser-Produktionen entstehen, die Bandmaschinen Tag und Nacht laufen läßt, Stücke keinen Anfang und kein Ende mehr haben, Musiker, Freunde, Journalisten, wer auch immer anwesend ist, der eigenen – soll man das so sagen? – Kreativität freien Lauf lassen. Musik, Merkwürdigkeiten und Mißklänge türmen sich zu Kilometer-Schleifen, das meiste davon bis heute unveröffentlicht.
Harald Großkopf, damals Schlagzeuger – erst bei Wallenstein, dann bei Ash Ra Tempel – , heute ein gefragter Mann in der House- und Ambient-Szene, hatte so etwas wie ein Zuhause gefunden, Nestwärme, eine Familie: „Ich hatte Ratten in der Wohnung, aber im Studio, da fühlte ich mich geborgen. Mutter Dierks kochte für uns, Rolf-Ulrich und Gille, ein paar Jahre älter als wir Musiker, waren eloquent und belesen. Während unsere Elterngeneration im Bewußtsein der 68er Zeit noch zur Nazi-Generation gehörte, habe ich da alles aufgesogen, was sonst nur eine Familie hätte vermitteln können. Umso verstörter war ich in meiner kleinen Love & Peace-Hippie-Welt, als später diese Geschichten mit den ganzen Prozessen losgingen.“
Ein Name fehlt noch im Kaiser-Kosmos, ein Mann, der 1972 zwar nur kurz in persona aus dem Nebel auftauchte, aber für Kaisers Ideologie von zentraler Bedeutung war: Dr. Timothy Leary, 1963 in Schimpf und Schande vom heiligen Harvard-Hofgejagt, weil er LSD allzu enthusiastisch gepriesen hatte. In den USA aus dem Gefängnis ausgebrochen, um die halbe Welt geflohen, nun plötzlich mit den Ash Ra Tempel-Musikern lachend auf einer Schweizer Bergwiese.
Klaus D. Müller, damals Roadie, heute Manager von Klaus Schulze, war dabei: „Es war im August ’72, ein unheimlich heißer Sommertag. Jemand gab uns 7Up zu trinken, eisgekühlt, wunderbar, ich hatte irrsinnigen Durst. Bis ich merkte, daß da LSD drin war. Sehr gutes LSD. Ich kam auf einen fürchterlichen Trip. Heute mag das seltsam erscheinen: Ich war ein bißchen pikiert, daß mir keiner was gesagt hatte, aber irgendwie schien mir das damals normal.“ Auch bei allen späteren Studio-Sessions gab’s reichlich LSD – meist in Sektgläsern zur freien Verfügung.
Ob Kaiser und Gille tatsächlich Musikern gegen deren Wissen LSD verabreicht haben, soll und kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Fest steht, daß aus dem inneren Kaiser-Kreis, einer Gruppe von einigen Dutzend Leuten, mindestens fünf in der Psychiatrie gelandet sind. Schlimm genug – andere aber warfen zwar Trips, was das Zeug hielt, machten stattdessen aber positive Erfahrungen. Dollase: „Bei einer Session spielte Klaus Schulze gerade einen Rhythmus, und Learys Mitarbeiter Brian Berritt wippte dazu im Schaukelstuhl, ohne Sichtkontakt. Ich hielt aus Spaß den Schaukelstuhl an – sofort brach Schubes Rhythmus ab; als ich den Stuhl losließ, fing auch Schulze wieder an. Kaiser hatte die Idee, Magier und spirituelle Lehrer in die Produktionen einzubeziehen, die Energie spenden sollten – und da war was dran.“
Leider glaubte Meisel in Berlin dem Markt mehr als der Magie und trennte sich im Mai ’73 von Kaiser. Auch Edgar Froese von Tangerine Dream und Klaus Schulze hatten den faulen Zauber satt und kündigten am 19. Juli ’73 ihre Verträge mit Kaiser. Die Zeitungen schrieben: „Des Kaisers letzter Schmanrn“ oder „Aufstieg und Fall eines Pop-Händlers“. Vorausgegangen waren Anzeichen von zunehmendem Realitätsverlust bei Kaiser und seinem Sternenmädchen. Als“.Kosmische Kuriere“ in alberne, von ihr entworfene Glitzeruniformen gesteckt, sollten die Musiker neue Popgalaxien ansteuern. LPs wie „Sei Fi Party -Uttscr Flug durch die kosmische Musik“ oder „Gilles Zeitschiff‘ gelten bei manchen zwar heute als Kult, sind aber eher traurige Realsatire.
Der Tiefpunkt war mit dem berüchtigten offenen Brief an „Sounds“ erreicht, als Kaiser und Lettmann im Namen „aller Cosmic Courier Musiker in Deutschland – und in aller weit“ schrieben: „Timothy Leary ist vom CIA verfolgt. Die Zeitschrift mit dem bislang angeblich progressiven‘ Image druckt in ihrem Aprilheft (1973) drei Fotos von Timothy Leary, die aus den CIA-Fotoarchiven stammen… ,Sounds‘ hat sich damit gegen Leary und das Prinzip der Freude entschieden. Für Angst, Horror und CIA… Wir prophezeien – diese ,Sounds‘ ist tot.“
Umgekehrt war’s – die Autoren dieses Pamphlets waren erledigt, vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben und bald sehr knapp bei Kasse, obwohl Kaiser und Lettmann zur gleichen Zeit einen Finanzplan erstellen, auf dem sie 1973 mit Umsatzsteigerungen von 600% bis 800% rechnen, Einnahmen von 3 325 000 DM erwarten und für das folgende Jahr 1 885 000 DM in neue Produktionen investieren wollen. Aber da sind sie schon nicht mehr in der Lage, ein paar Hunderter Anwaltskosten für ihren verlorenen Prozeß gegen Klaus Schulze zusammenzukratzen. Trotzdem ziehen sich die Gerichtsverfahren noch über Jahre hin, Edgar Froese muß gar alle Instanzen bis zum Bundesgerichtshofdurchlaufen, ehe er – vier Jahre nach Vertragskündigung – Recht bekommt. Recht ja, Geld nie. Kaiser ist als Gauner abgestempelt, als Betrüger, der Musiker um Millionen prellte. Wahrscheinlicher ist, daß die angeblichen Millionen nur im Niemandsland zwischen Hype und Hysterie existierten und Kaiser kein habgieriger Krimineller war, sondern, wie Dollase meint, „seinen eigenen Wahn-Visionen auf den Leim ging“.
Visionen, die noch genug Stoff zur Legendenbildung lieferten, als die beiden schillernden Figuren Ende der 70er Jahre von der Bildfläche verschwanden. Mal soll Kaiser ab Manager von Erich von Däniken in Amerika gesichtet worden sein; vor ein paar Jahren habe er, so die Fama, bei der Europäischen Weltraumbehörde den Antrag gestellt, dereinst seine und „Sternenmädchens“ Asche mit einer Ariane-Rakete ins All zu schießen; andere glauben, er sei längst nicht mehr am Leben, wieder andere sehen ihn friedlich in einer Kölner Wohnung sitzen. Geht man den Dingen auf den Grund – wenig Substantielles, viel Hörensagen.
Die Wirklichkeit ist ungleich trister. Sie werden mehrmals zwangsgeräumt, tauchen unter und leben bis etwa 1990 in Köln-Königsdorf bei Mutter Lettmann. Jeden Kontakt zur Außenwelt verweigern sie. Selbst als der WDR für die erneute Ausstrahlung eines alten Kaiser-Beitrages Honorar schicken will, weist er das Geld zurück. Als die Mutter stirbt und das Haus verkauft wird, beginnt die Odyssee von neuem. Letzte, noch frische Spuren, weisen ins Sauerland. Dort hat „Sternenmädchens Planeten Schau“ eine Postlageradresse; direkte Kontaktaufnahme ist nicht möglich.
Von Zeit zu Zeit verschickt die Frau, die in einem fernen, früheren Leben Gille Lettmann hieß, lange, unverständliche Traktate an Politiker und Industriebosse in aller Welt, denen sie Listen mit Hunderten von Namen beifügt. Seltsame Parallele: Kaiser hat 1972 einen prallgefüllten Ordner angelegt, der nichts anderes als Tausende und Abertausende von Adressen (für Promotionszwecke) enthält, penibel untereinandergeschrieben über Hunderte von Seiten. „Sternenmädchen“ scheint über die Jahrzehnte fast völlig die Marotten, die Ideologie, die Sprache, ja die Identität ihres Gefährten aufgesogen zu haben, den sie inzwischen nur noch „Meson Cristallis“ nennt. Kaiser selbst ist seit 20 Jahren nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten. Bereits zum Ende der aktiven Zeit Mitte der 70er Jahre übernimmt Gille Lettmann seine Rolle – Korrespondenzen mit Anwälten, Briefe an Künstler und Pressemitteilungen stammen fast ausschließlich von ihr.
Ach ja, das ist eine traurige Geschichte. Also Schwamm drüber? Zumal die Recherchen sich schwierig gestalten. So mancher damals Beteiligte möchten die alten Geschichten ruhen lassen, alte Wunden nicht wieder aufbrechen lassen. Edgar Froese, der sich die vermutlich qualvollste Auseinandersetzung mit Kaiser geliefert hat, verweigert jeden Kommentar. Klaus Schulze, sonst nicht gerade auf den Mund gefallen, verweist auf seinen Manager. Dieter Dierks, in dessen Studio fast alle Platten entstanden sind, winkt ab.
Und dann die Musik: Jahrelang haftete Kaiser-Produktionen der maximale Igitt-Faktor an, niemand hatte einen erstzunehmenden Beitrag zur Popgeschichte darin sehen mögen. Aber mit der Zeit wird aus Kraut Kult, auch wenn diese Erkenntnis vorwiegend aus dem Ausland zu uns gelangt. Julian Cope würdigt jene Jahre in seinem Buch „Krautrocksampler“, eine französische Plattenfirma („Spalax“) veröffentlicht das Repertoire von „Ohr“, „Pilz“ und „Kosmische Kuriere“ auf CD. Und unlängst bekam Manuel Göttsching Post aus Japan – die Einladung zu einer Japan-Tournee für Ash Ra Tempel.
Eine Band dieses Namens existiert seit mehr als 20 Jahren nicht mehr; auch als „Ashra“ sind er und die Mitmusiker Harald Großkopf und Lutz Ulbrich schon ewig nicht mehr aktiv. Aber jetzt: ein Deja-vu-Erlebnis von märchenhaften Dimensionen. Im „Tokyo Tower Wax Museum“ zeigt Kaisers Promotion späte Wirkung: Neben Einstein, Jesus und Hendrix das kosmische Dreigestirn Klaus Schulze, Mani Neumeier (Guru Guru), Manuel Göttsching. Die Boutique „Cosmic Jokers“ – benannt nach einer Session-LP der Kosmischen Kuriere – verkauft Devotionalien der Kaiser-Ära, und die japanischen Fans jubeln Ashra bei den Konzerten zu. Im Februar 1997. Zeitreise live, seltsame Geschichte.