Mit Low Rock und Bariton-Orgien stoßen MORPHINE in neue sonore Untiefen vor
Jede Nacht gegen elf gehe ich raus. Ein Satz, der eigentlich herzlich wenig sagt – und doch einen ganzen Song mit Leben erfüllt.Zu hören auf „Like Swimming“, Morphines viertem Album.
Schien es vor einem Jahr noch so, als würde das Trio aus Boston mit seinem spartanischen Low-Rock in weichere, orchestrale Gefilde abdriften, so darf man jetzt beruhigt aufatmen. Bassist Mark Sandman, Bariton-Saxophonist Dana Colley und Schlagzeuger Billie Cornway sind wieder auf dem Weg der Reduktion, und das nicht nur musikalisch, sondern vor allem auch in textlicher Hinsicht. Was da aus Sandmans Mund quillt, erinnert an den poetischen Absurditätenbeutel der alten Dadaisten.
Sandman, eine vampirhafte Erscheinung, läßt langsam den Qualm einer Zigarette durch die Nüstern entweichen, bevor er sich zu seinen Texten äußert. „Es ist, als würde ich eine Sauce auslassen: Alle überflüssigen Substanzen werden rausgekocht. Am Ende hast du nur noch die essenziellen Worte. Die Bedeutung der Sätze, die du rausgekocht hast, bleibt in den Skeletten jener, die geblieben sind, wie Schatten bestehen.“
Wie jedes Album von Morphine ist auch „Like Swimming“ keine 40 Minuten lang. Ursprünglich wollte die Band einen Doppeldecker mit zwei CDs von jeweils knapp 20 Minuten machen, doch daraus wurde nichts, denn die drei waren ohnehin schon in Verzug. Sandman zieht die Stirn in Falten. „Das letzte Album hatten wir auf Tour zurechtgebastelt: Immer wenn wir mal für eine Woche Zuhause waren, nahmen wir schnell ein, zwei Songs auf. Am Ende schauten wir uns das Material an und sagten: ,Okay, da machen wir ein Album draus.‘ Diesmal hatten wir mehr Zeit nachzudenken und konnten mit den Songs leben. Es gab einige Nummern, die für ein paar Monate auf dem Album blieben, dann aber spurlos verschwanden. Diverse Bearbeitungen nahmen wir erst in letzter Minute vor. Eigentlich wollten wir noch viel mehr ändern, aber die Plattenfirma wollte endlich den Schlußstrich ziehen.“
„Like Swimming“ gehört zu den wenigen Alben der Rock-Geschichte, deren Titel älter ist als seine Songs. Silvester ’95 hatte sich Cornway beim Schlittenfahren die Beine gebrochen – Sandman mußte sich anderweitig die Zeit vertreiben. Als sein Manager mit der Idee eines 7″-Labels kam, stellte er ihm Aufnahmen aus seinem Homestudio zur Verfügung: Das Projekt wurde „Like Swimming“ getauft.
Der Titel gefiel Sandman so gut, daß er einen passenden Song dazu schrieb, und der wiederum kristallisierte sich als sein Lieblingssong auf dem Album heraus. „Ich finde, daß Menschen im Wasser wesentlich graziöser aussehen. Auf zwei Beinen zu laufen ist doch eine komische Sache. Es wundert mich, daß wir nicht pausenlos vornüberkippen. Wenn wir an einer kosmischen Freakshow für Außerirdische teilnehmen würden, würden wir sicher den Preis für die merkwürdigste Kreatur gewinnen.“
Die irdische Zukunft von Morphine liegt dagegen im Dunkeln. Soll es als Trio weitergehen – oder wird Sandman noch mehr Musiker einstellen? „Der Kern unseres Klanges ist die Vibration multipler Bariton-Frequenzen“, schätzt er ein. So hält er es für durchaus vorstellbar, auch noch einen Cellisten anzuheuern. Sandman selbst will Baß-Piano spielen, Colley übt bereits fleißig auf einem Baß-Saxophon, und auch ein Kontrabaß steht zur Debatte. Gut vorstellbar, so Sandman, daß irgendwann einmal an die Stelle der dreiköpfigen Niedrigfrequenz-Kohorte sogar gleich eine ganze Bariton-Armee tritt.