Stumme Stimmen, geknebelte Sänger
Die Stimme - Ruch oder Segen der Rock-Musik? "Wir schließen sie nicht prinzipiell aus", erklärt John McEntire von Tortoise. "Wenn wir sie verwenden würden, erhielte sie jedoch keine höhere Priorität ab die restlichen Instrumente. Übrigens: Natürlich hat auch jedes unserer Stücke eine Stimme, es ist eben nur keine menschliche."
Tortoise sind keine Dogmatiker, Tortoise sind Techniker. So abstrakt ihre Musik zuweilen auch klingt sie unterliegt keinem ausgeklügelten Regelwerk. Das betont die Band immer wieder – Schlachtrufe wie „Knebelt alle Sänger“ hört man von ihnen nicht. Das Ensemble aus Chicago hat mit seinem Schaffen einer Musik den Weg in mittelgroße Konzerthallen gebahnt, die normalerweise im Abseits der amerikanischen College-Szene gepflegt wird und dort, nebenbei gesagt, auch immer schon gepflegt wurde: eben der Instrumental-Musik. Da würde man die Band, die während ihrer Konzerte meist auf Mikros verzichtet, Das erfüllte Schweigen: undogmatischer Post-Rock von den Instrumental-Bands TORTOISE, TRANS AM und PELL MÜLL liebend gerne zu Wortführern machen. Doch Poetologien oder Patentrezepte interessieren Tortoise nicht. Ihre Absage an den Gesang erfolgt eher aus praktischen Erwägungen; die herkömmliche Hierarchie der Instrumente wird so hintertrieben, die Songstruktur aus Chorus und Verse ebenfalls. „Die klassische Form des Songs schränkt zu sehr ein“, sagt Bassist Doug McCombs. „Wir halten unsere Musik so offen, daß nichts von vornherein ausgeschlossen ist. Deshalb sind alle unsere Tracks immer nur vorläufige Ergebnisse, es gibt keine verbindliche Endfassungen.“ Damit ist es Tortoise ernst. Für „Rhythtns, Resolutions & Güsters“ etwa ließen sie Remixe von Tracks ihres Debüt-Albums anfertigen; alle beteiligten Produzenten wurden ermutigt, frei über den Stoff zu verfugen. Am radikalsten ging Steve Albini vor: Für „The Match Incident“ hat er Schritte aufgenommen, das Knarren einer Tür; das Öffnen einer Bierflasche, und irgendwann hört man im Hintergrund leise die Originalversion. Scheiß auf Beats. Tortoise wissen, daß es stets verschiedene Perspektiven gibt. McEntire: „Wir versuchen, nicht immer aus der gleichen zu arbeiten. Manchmal starten wir mit einer ausgearbeiteten Komposition, manchmal mit derkleinstmöglichen Idee.“ Der Track „Cliff Dweller Society“, auf der Maxi „Gamera“ erschienen, birgt in seinem Zentrum eine Komposition, die nicht nur aufgrund ihrer verschachtelten und schlingernden Bläsersätze an Charles Mingus erinnert. Für „Djed“, das 20minütige Titelstück des zweiten regulären Albums, kombiniert das Quintett pluckernde Beats im Stile von Stereolab mit der Minimal Music eines Philip Glass. Tortoise sind keine Neulinge. Die letzten zehn Jahren verbrachten sie bei den interessanteren amerikanischen Underground-Bands (Tar Babies, Eleventh Dream Day). Jetzt lösen sie das Versprechen ein, das in dem neuerdings gern herbeizitierten Epoche-Etikett Post-Rock liegt: Improvisation und Kontemplation werden von ihnen gegen Repetition und schale Riffs gesetzt. Dub und Krautrock, Jazz und elektronische Musik werden immer mitgedacht Die Rolle der fünf in der US-Szene ist zentral, obwohl ihre Musik so fern von allem Etablierten scheint Multi-Instrumentalist John McEntire ist zur Zeit vielleicht der vielbeschäftigtste Mann des Business. Er ist nämlich auch Mitglied von The Sea And Cake, außerdem tourt er mit Red Krayola, den Ahnen des Avantgarde-Rock. Man erzählt über ihn, sein Schlaf bedarf sei schon befriedigt, wenn er im Bandbus zwei Stunden den Kopf auf die Knie legt. Mehr ist nicht drin. Denn der Name von McEntire, nebenbei Studiobesitzer, stand im letzten Jahr mindestens auf zwei Dutzend Platten als Produzenten-Credit Unter anderem auf der von Trans Am. Auch die sehen im Gesang eher ein Übel als eine Notwendigkeit, auch ihr Baß wird mit der Wucht des Dub gespielt, auch sie haben Krautrock studiert. Dann hören jedoch schon die Gemeinsamkeiten zu Tortoise auf. Auf ihrem Debüt erinnern sie an jene Radikalinskis, die Mitte der Achtziger auf dem SST-Label mit verschiedenen Formen von Improvisationsmusik dem dahinsiechenden Rock den Garaus machen wollten. An dieser Stelle ließe sich diskutieren, wie sinnvoll der Begriff Post-Rock eigentlich ist, denn das waren auch schon Avantgarde-Bands wie Blind Idiot God oder Universal Congress Of. Interessant allerdings, daß Trans Am einer anderen Generation entstammen und verhältnismäßig jung sind -alle drei sind erst Anfang zwanzig. Pell Mell haben hingegen schon einige Jahre auf den BuckeL Seit eineinhalb Dekaden existieren sie, mit „Intentate“ haben sie ihr fünftes Album vorgelegt. Der Austausch von Ideen funktioniert auf ungewöhnliche Weise. Die vier wohnen in vier Ecken der USA, transferieren Melodien per E-mail, Tape oder Telefon und kommen nur im Studio zusammen. Die Arbeitsweise verleiht dem Begriff Post-Rock Bedeutung: Wie klingt Rock aus dem Internet? Organisch und straff. Was vielleicht an den Erfahrungen der Beteiligten liegt Steve Fisk etwa, der eine verzerrte Hammond-Orgel bedient, ist einer der schillerndsten Produzenten. In sein Studio ließ er meist nur Rocker, die für Grunge viel zu schräg waren. Die Stücke klotzen wie Surf-Nummern, doch Dave Spalding liefert feinsinnige Gitarren-Figuren im Stile von Television. Songs wie fliegende Teppiche: schnell und flauschig. Pell Mell liefern ein weiteres Argument für Instrumental-Musik: Titel brauchen sich nicht auf Lyrics zu beziehen. Welche Rock-Band käme schon auf den Titel „Vegetable Kingdom“?