Zu Gast bei Prince: Mehr lila für alle
Wie Prince, der einsame König von Paisley Park, mit der Kraft der Musik die Welt retten will. Joachim Hentschel besuchte ihn im vergangenen Jahr in seiner Heimatstadt Minneapolis. Anlässlich des Konzerts in Köln nun das Feature unserer August-Ausgabe des letzten Jahres.
Um die heikelste Frage gleich zu beantworten: Ja, sogar die Kabinen der Gästetoiletten in Paisley Park sind lila. Lila wie der „Purple Rain“ und das Doppel-LP-Cover von „1999“, wie die Husarenmäntel und Disco-Stierkämpferhosen, die Hausherr Prince trug, wenn er in besten Zeiten mit seinem Publikum öffentlich Liebe machte. Lila wie die Streifen und Logos, die er im Frühjahr 2006 auf die Fassade eines von ihm gemieteten Anwesens in West Hollywood malen ließ. Wofür er damals vom Basketballspieler Carlos Boozer verklagt wurde, dem Besitzer, der bei der Farbauswahl sicher gern mitgeredet hätte.
Dagegen sieht Paisley Park – das Ton- und Videostudio, Hauptstadtbüro und Lustschlösschen, das Prince sich 1987 in Chanhassen bei Minneapolis errichten ließ – von außen mehr wie ein Baumarkt aus. Die Gebäudefront ist leer, kein Schriftzug, kein Banner mit dem Liebessymbol, das zeitweise der Prince-Rufname war, kein bisschen Lila – dabei hat der Ort nichts Geheimes an sich. Bis vor vier Jahren konnte man die Studios ganz normal mieten. Telefonnummern, technische Daten und virtuelle 360-Grad-Hausführungen stehen heute noch im Internet, obwohl die Leitung längst tot ist. Auch Partys hat er hier veranstaltet. Große, exotische Festgesellschaften, zu denen jeder kommen durfte, der im Mail-Verteiler war und nachts noch nichts vorhatte.
Bis Prince im besagten Frühjahr 2006 die lila Köfferchen packte, nach Los Angeles zog, seine Fanclub-Website vom Netz nahm, einen Nightclub in Vegas eröffnete, im Jahr darauf eine Sommerhälfte lang in London auftrat und weitere Abenteuer fern der Heimat erlebte. Für viele Musikfreunde dürfte es zwar weiterhin die größte Überraschung sein, dass es Prince Rogers Nelson, 52, überhaupt noch gibt, dass er im Jahr 2010 eine neue Platte namens „20TEN“ und eine Europatour gemacht hat. Er, der wunderliche kleine Satansengel des Funk-Sex-Pop, einer der größten Superstars, die zwischen Punk und Techno passten, der Michael Jackson für Coole, der geschätzte 100 Millionen Alben verkauft hat. Der Geniekult, den Prince um sich selbst herum errichtete, wirkte zeitweise albern und realitätsfern – allerdings zog er ihn konsequent genug durch, um später die Früchte zu ernten: Sein Konzept war nie zu fassen, keine seiner Ideen waren vorhersehbar, auch nicht die schlechten. Deshalb bürgt auch das 27. (oder 28. oder 29.) Prince-Album noch für sonderbare Spannung: Was wird er diesmal tun?
Für die Eingeweihten ist die eigentliche Nachricht 2010, dass Prince wieder in seine Geburtsstadt Minneapolis heimgekehrt ist, zurück nach Paisley Park. Den Parkplatz gefegt, die Möbel entstaubt, die Duftkerzen wieder angezündet hat.
„Admission is easy, just say U believe“, sang er 1985 in dem Song, der dem Studio den Namen gab, aber natürlich braucht man mindestens eine Einladung, um reinzukommen. „Clerks“-Filmregisseur Kevin Smith hat die grandiose Geschichte erzählt, wie er 2001 eine Woche in Paisley Park verbrachte, um auf Wunsch des Künstlers eine Dokumentation zu drehen (man findet Smiths Rede auf YouTube). Er sah Prince angeblich kaum, bekam trotzdem öfter rätselhafte Regieanweisungen überbracht, da der Meister den Dreh über versteckte Mikrofone belauschte. Der Wie-krass-ist-das-denn-Tonfall, in dem Smith seinen Bericht hält, ist pflichtschuldig: Man gefällt sich beim ungläubigen Kopfschütteln. Man wäre enttäuscht, würde der sprichwörtliche Sonderling keine Extrawünsche oder bizarren Benimmregeln vorbringen, wäre er pünktlich und logisch (und wären die Klokabinen weiß oder schwarz).
So gesehen läuft beim ROLLING-STONE-Termin alles nach Plan. Tag und Uhrzeit werden über Wochen im Ungefähren gehalten, nächster Freitag sei allerdings ausgeschlossen. Donnerstagmittag dann die akute Nachricht: doch Freitag! Nach dem Flug durch die Zeitverschiebung, am St. Paul International Airport, meldet sich die englische Prince-Sprecherin mit Details zum Treffpunkt – im Chanhassen Holiday Inn werde man abgeholt, wenn es Zeit sei. Streng verboten in Paisley Park, schon immer: Aufnahmegerät, Fotoapparat. Notizblock ginge gerade noch, auch der bereite Prince schon Bauchschmerzen. Weil er es lieber sieht, wenn man sich später an das erinnert, was von allein im Kopf geblieben ist. An die Vibes.
Was dann passiert, ist selbstverständlich so crazy, bizarr und total abgefahren, dass man es – wie Kevin Smith – nur in der ersten Person Singular erzählen kann. Der Erlebnisaufsatz: Mein Nachmittag mit Prince.
Fast egal, wen man in Minneapolis trifft: Jeder hat seine Prince-Geschichte, die er unbedingt erzählen will. Oder muss. Das Mädchen im Café war natürlich nie ein echter Fan, ließ sich von der Schwester nur mal zu den Paisley-Partys mitnehmen. „Wir standen stundenlang auf dem Parkplatz, plötzlich öffnete er die Tore. Und ich stand so nah bei ihm …“ Der ägyptische Chauffeur, der am Flughafen auf einen Fahrgast wartet, gibt mir gleich die Nummer seines Cousins Mohammed: „Fragen Sie ihn nach Prince! Der saß früher immer in seinem Restaurant!“ Ja, der Junge sei oft mit Freunden ins Java gekommen, bestätigt der Cousin. Meistens habe er sich nur einen Kaffee für 50 Cent bestellt, dann heißes Wasser aus der Küche. „More water! More water! Hat er bekommen, obwohl er zahlenden Gästen den Sitzplatz wegnahm. Zwei Jahre später schlage ich die Zeitung auf und fass es kaum: That Prince guy!“
Die Fahrt geht über den Minnesota State Highway 5, von Minneapolis raus nach Chanhassen, dem 24.000-Einwohner-Vorstädtchen, in dem Prince zwischen den vielen Parks und Seen zwölf Grundstücke besitzt, für die er ab und zu Steuern nachzahlen muss. „In den 70ern, als wir aus Ägypten hierher kamen, war das alles noch Farmland!“ schwadroniert Mohammed am Telefon. Dafür wollten bald alle in der Stadt seine Gyros-Sandwiches haben. „Wenn man nichts hat und daraus etwas macht – darauf kann man stolz sein! Genau wie Prince: Er war ein Niemand, und dann … Boom!“ Was ich ihm ausrichten soll: „Er soll mal wieder im Java essen! Das ist er mir schuldig!“
„Also erstens: Jeder behauptet, mein Cousin zu sein“, sagt Prince, schon mal ganz schön rätselhaft, als ich ihm – eine halbe Stunde und etliche Verwicklungen später, die hier jetzt zu weit führen würden – im kühlen, von hohen Deckenfenstern beleuchteten Atrium von Paisley Park die Nachricht überbringe. „Und zweitens: Ich trinke gar keinen Kaffee.“ Ein gruseliges, dreistimmiges Kichern antwortet vom Nebentisch: „Hi hi hi!“ Die drei Backgroundsängerinnen Shelby J, Liv Warfield und Elisa Fiorillo spielen die griechischen Sirenen, tuscheln halblaut untereinander, geckern, wenn Prince etwas andeutungsweise Lustiges sagt, stecken dann wieder die Köpfe zusammen.
Um die Ecke im Studio B sitzt noch ein belgischer Journalist, der das neue Album hört, sonst: Keiner da. Kein Staff, kein Bodyguard, keine persönliche Assistentin. Paisley Park, mit seinen lila Teppichen, Sonnenmustern, lotusblütenförmigen Sitzkissen, vergoldeten Tischbeinen und anderen Acessoires, die man aus 80er-Mädchenzimmern wiederzuerkennen glaubt, ist riesig, leer und still. Trotz aller Helligkeit: unheimlich.
Woher ich komme, fragt Prince. Berlin. Oh, da fliege er gerne zum Möbel- und Modekaufen hin. Bald ja auch für ein Konzert, sage ich. „Tja, wer weiß …“, grinst er, andeutungsreich lächelnd, auch wenn ich die Andeutung nicht kapiere. Nun ja, merke ich an, es seien ja schon viele Tickets weg, jetzt solle er doch möglichst auch kommen. Schlagartig – fixieren mich die Augen, verschwindet das Legere aus seinem Ton. „Wie schnell haben sich die Tickets verkauft?“ Aha, der Geschäftsmann. Der soll ja nicht ganz so lila hinter den Ohren sein.
Lobreden auf Prince konzentrieren sich gewöhnlich auf die außerordentlichen musikalischen Talente. Erst wenn man ihm gegenübersitzt, realisiert man: Natürlich verdankt dieser Mann den Erfolg mindestens so sehr seiner simplen Smartness, seinem teuflisch guten Aussehen. Von dem er immer so gekonnt ablenkt, mit flammenden Gitarrensoli, weltbesten Jazzfunk-Harmonien und Edelstein-Refrains. Trotz der berühmten rund 1,60 Meter wirkt er nicht wirklich klein, die Proportionen sind kompakt, perfekt: türkisfarbenes Hemd, ansonsten ganz in Weiß mit ärmelloser Wolljacke, Schlaghose und Leinenschuhen, Milchkaffee-Gesicht. Als habe er eben in einem märchenhaften Harem die Shisha-Pfeife niedergelegt, um sich mal kurz den blutjungen Neuzugängen aus Lateinamerika zu widmen. Aus einem Plastikbecher trinkt er einen frozen Strawberry-Dingsda, natürlich nichts mit Alkohol. Und signalisiert sanft, dass er gerade Lust hat, sich ein wenig interviewen zu lassen. Was ja nicht oft vorkommt.
Also: Mr. Prince, wie haben Sie das gemacht? Oder besser: Passiert es oft, dass Ihnen Menschen mit völlig gestörten Erwartungshaltungen begegnen? „Keine Ahnung. Ich lasse nur selten Fremde in meinen engen Kreis herein.“ Aber wie fühlt es sich an, als virtuoser Tausendsassa die besten Kritiken immer nur dann zu bekommen, wenn man genau so klingt wie ganz früher? „Ach, ist das so?“ fragt Prince und zieht die Augenbrauen hoch, geradezu lasziv. „Auch egal. Die Erwartungen anderer Leute sind für mich nicht relevant, überhaupt nicht. Aus dem einfachen Grund, dass ich kein Teil der Musikindustrie mehr bin. Meine Welt funktioniert nach anderen Kriterien. Erst neulich hat mich wieder ein Mann aus dem Business gefragt: Warum lässt du nicht mal eines deiner Alben von einem Außenstehenden produzieren? Und ich: Schöne Idee, aber wer soll das sein? Als Werbegag brauche ich das nicht.“
Andre 3000 von OutKast könnte es probieren, schlage ich vor. „Andre?“ fragt Prince amüsiert. „Nichts gegen ihn, er ist ein toller Rapper, aber ist er auch ein Musiker?“
Das Stichwort reißt ihn vom Sitz. Er steppt rüber in eines der Chill-out-Zimmer mit Ausgang zum Garten. An der Wand übergroß das „The Rainbow Children“-Albumcover mit der stilisierten Jazz-Band, darunter das Klavier, eine handgeschreinerte Special Edition, die wie eine große schwarze Zunge aussieht, die gerade jemand rausstreckt.
„Wenn ich heute diese Musik höre“, beginnt er zu predigen, nachdem er sich auf den Klavierhocker gesetzt hat, übrigens die einzige Art von Stuhl, die ihn länger als fünf Minuten halten kann, „dieses ganze beliebte Eighties-Dance-Stuff-Revival … alles so platt, simpel und offensichtlich. Die alten Synthesizer, die alten Akkorde.“ Er fängt an zu improvisieren, Nachmittags-Nachtclubmusik. „Man muss sich seine Harmonien selbst erfinden! Wendy und Lisa haben mir das beigebracht.“ Die beiden waren in der ersten Hälfte der 80er das Sturmauge seiner Band The Revolution, durften trotz der herrschenden Kontrollfreak-Verhältnisse relativ viel Kreatives beisteuern. „Es gibt so wenig Musiker, die richtig frei im Kopf sind. Ich arbeite eh nur noch mit Rhythmusgruppen zusammen – kannst du zufällig Congas spielen? Und kennst du Esperanza Spalding? Schreib dir den Namen auf. Sie ist genial.“
Er klimpert weiter, während er spricht, skippt durch verschiedene Stücke. Neben dem Klavier auf einem roten Lotuskissen balancierend, kann ich aus nächster Nähe beobachten, wie Prince sich in der Musik zu verlieren beginnt, die er selbst spielt.
„Siehst du, das ist mir heilig!“ ruft er. „Musik soll den Geist befreien, uns auf die nächsthöhere Stufe heben. Trying to get higher and staying there! Und wenn sie diesen Drive verliert, wenn sie flach und berechenbar wird …“ – mit der linken Hand gestikuliert er die nach unten zeigende Kurve – „… dann verliere ich sofort das Interesse. Ohne Musik wäre die Welt ein so statischer, unbeweglicher Ort!“
In dem Moment, wie auf Stichwort, rauschen die drei Musen ins Zimmer. Sie haben Leitz-Ordner dabei, mit Notenblättern in Prospekthüllen, wie bei der Kirchenchorprobe. Es geht los: die uralte Single-B-Seite „How Come U Don’t Call Me Anymore?“, „Lean On Me“ und „Que Sera Sera“, „Nothing Compares 2 U“, „Diamonds And Pearls“, zwischendurch wirft er als Gag die Titelmelodie der „Addams Family“ ein. Die Sängerinnen harmonieren wie schwarze Engel, die Luft bebt. Prince gibt Anweisungen, beim nächsten Mal bitte so und so, alles wird notiert. Und schon schlägt der leicht autoritäre Ton wieder in Jubel um: „Wie kann man das hören und nicht sofort eine Europatour buchen?“ ruft er mir zu. „Wenn du Geld dabei hast – bitte jetzt werfen!“
Dann nimmt er Wünsche entgegen, und statt wundervoller Pianoballaden wie „Sometimes It Snows In April“ oder „When 2 R In Love“ fällt mir im Eifer der Situation nur das Schmalzstück „The Arms Of Orion“ vom „Batman“-Soundtrack ein. „Das ist nicht von mir“, geckert Prince, „das hat der Joker geschrieben! Wusstest ihr, dass das Album eigentlich ein Duett zwischen Michael Jackson und mir werden sollte? Er als Batman, ich als Joker?“ An den Song erinnert er sich nur zaghaft, spielt den Anfang, weiß den Text nicht mehr. „Aufschreiben!“ sagt er zu Liv wie zur Sekretärin. „Müssen wir unbedingt üben!“
Das Komplizierteste von allem eh schon Komplizierten an Prince ist sein eigenartiges Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft, zur Zeit überhaupt. Fragen über frühere Unternehmungen weicht er aus, auf Pläne oder Vorausblicke lässt er sich nicht festlegen. Beides mit derselben Begründung: Er lebe strikt im Jetzt, in der Gegenwart. Nicht mal zum neuen Album „20TEN“ – das übrigens auf ganz bezaubernde Art an die eben noch von ihm diskreditierten alten Synthesizer und alten Akkorde seiner Dirty-Funk-Zeit erinnert – will er viel sagen. Er habe doch schon längst wieder neue Musik gemacht, „ein neues System, das aber frühestens im Winter bereit für die Öffentlichkeit ist“. Die Schmierzettel mit völlig unbekannten Songtiteln, die auf dem Mischpult im von Duftkerzen vernebelten Studio B liegen, geben erste Hinweise: „Star (Sweet Dreams)“, „Back In The Day“, „Waiting“.
Zwei Ereignisse dürften mit für das verantwortlich sein, was man bei aller Liebe an Prince sonderbar und unverständlich finden kann. Erstens: die Konversion zu den Zeugen Jehovas, kurz nach der Jahrtausendwende, unter Einfluss des Bassisten und Freundes Larry Graham. Es gibt Augenzeugen, an deren Türen er mit dem „Wachtturm“ geklingelt haben soll. Den Gottesdienst besucht er im öffentlichen Königreichssaal in St. Paul. Und wenn er beginnt, vom Gott und vom Planeten zu reden, wird es wirklich, sagen wir mal: komplex. Extrem fremdsprachige Vibes.
Zweiter Faktor: der berühmte Streit mit der Plattenfirma Warner Brothers, deren Veröffentlichungspolitik und PR-Arbeit er als Nötigung empfand.
Dass er eine Zeit lang als Weirdo mit „Slave“-Aufschrift im Gesicht und albernem Symbolnamen herumlief, verdeckt ein wenig die Tatsache, dass Prince damals als Einziger die wahrhaft visionären Bilder sah: „Wenn das Internet irgendwann richtig funktioniert, ist die Musikindustrie geliefert“, sagte er schon 1995, verkaufte 1997 die „Crystal Ball“-Box übers Netz, betrieb bereits ab 2001 über seinen „NPG Music Club“ einen Downloadshop. Die Fans hatten zwar mit den diversen Websites viel Scherereien, zuletzt mit dem Aboservice „Lotusflow3r“, der kurz vor Einstellung noch mal Gebühren abbuchte. Was nichts daran ändert, dass Prince radikal richtig lag. Seine CDs verschenkt er manchmal auch gleich. Dass sich viele darüber ärgern, die noch im alten System stecken, hat für ihn keine Bedeutung.
„Den Durchbruch zu schaffen, was heißt das heute eigentlich?“ beginnt Prince später in der Paisley-Park-Küchenzeile den Monolog über sein – nach Gott – zweites Lieblingsthema. „Hit-Singles interessieren keinen mehr. Jeder veröffentlicht heute Musik, alles ist frei zugänglich. Wenn überhaupt, dann hebt man sich durch Persönlichkeit ab. Dadurch, dass man das wahre Vokabular der Musik beherrscht. Erykah Badu, D’Angelo, Jill Scott, sie waren von Anfang an vollendet, sie mussten von keiner Plattenfirma hochgepäppelt werden. Jimi Hendrix hatte London schon im Sack, bevor er eine einzige Platte veröffentlichte. Es gibt keinen Grund für junge Künstler, den angeblichen Gatekeepern zu Füßen zu fallen.“
Und um jeden Zweifel abzuwürgen, läuft Prince in softem Trab zu dem Flatscreen-Fernseher, auf dem ohne Ton ein Bette-Davis-Film läuft, klickt sich durch den Festplattenrekorder, bis er eine Aufzeichnung der Letterman-Show findet. Spult sich durch die Sendung und lässt mit voller Lautstärke den grandiosen Auftritt von Janelle Monáe laufen. Die mit Brickettfrisur, androgynem Smoking und riesigem Soul-Pop-Maulaufriss auf zehn Kilometer als Prince-Liebling zu erkennen ist. „Schau sie dir an“, zeigt er zum Bildschirm, “ her eyes are wide open!„
Die Easy-Going-Freundlichkeit ist in Wahrheit vielleicht ein Kraftakt für ihn. Seine hyperaktive Gastlichkeit könnte auch ein Schauspiel für die Presse sein, mit dem Prince die eigene Schamhaftigkeit überspielt (Das „Daily Mirror“-Interview verläuft dem Bericht nach verdächtig ähnlich wie meines). Aber die übermütige Begeisterung, die man ihm beim Anschauen dieses Videos ansieht: Die ist zweifellos echt. Ich stelle mir vor, wie er Nachmittage lang im leeren Paisley Park sitzt, seinem gewaltigen Jungszimmer, wie er Musikvideos schaut, Akkorde erfindet, mit den drei Musen neue Lieder lernt, die der Herr ihm eingibt. Vielleicht ist es genau das, was der Künstler Prince nun mal so macht.
Im Internet hängt er jedenfalls nicht ab. Auf die Frage, ob es nach den abgebrochenen Fanclub-Projekten eine neue Online-Präsenz geben werde, antwortet er nur mit einem genervt klingenden Laut. „Das Internet ist für uns durch. Erinnerst du dich noch daran, wie es war, als MTV plötzlich nicht mehr cool, sondern alt war? So geht es uns mit dem Netz. Wir waren von Anfang an dabei, haben einen Haufen Awards dafür gewonnen – jetzt ist Zeit für etwas Neues. Ich muss meine Meinungen auch nicht mit der ganzen Welt diskutieren. Ich lerne nichts, wenn ich vor flachen Bildschirmen sitze – ich lerne nur von echten Menschen. Vor ein paar Tagen hatte ich hier ein paar Freunde zu Gast, wir saßen zusammen, unterhielten uns über den Planeten, über die Probleme und darüber, wie sie zu lösen sind. So kommuniziere ich mit der Welt.“
Wäre es denkbar, dass er irgendwann keine Platten oder Tourneen mehr macht, einfach irgendwo die Bühne hinstellt, wie damals in den 21 Nächten in London, und die Leute zu sich kommen lässt, die seine Musik wollen?
„Schau, du lebst im Kopf schon im Jahr 2020“, beschwichtigt Prince, im geübten Bariton-Tonfall des weisen Gurus. „Ich lebe im Jetzt.“
Um so unerbittlich wie möglich zu spüren, wie es sich anfühlt, im Vorgestern zu leben, muss man nur das Hard Rock Café in Minneapolis besuchen. Wer hier seinen Apfelkuchen isst, muss dabei Videos von Led Zeppelin, Poison oder Foreigner anschauen. Im ersten Stock ist die Prince-Vitrine. Hinter Glas: die bunte Paisley-Stiefelette, der türkisfarbene Ganzkörperanzug, Lederhandschuhe mit Spitzenbesatz, ein Schlaghosen-Outfit mit Rüschenhemd, das wie ein Zimmermannsanzug wirkt. Eine „Sign ‚O‘ The Times“-Gitarre, die in Serie gehen sollte, aber wegen Problemen mit dem Tonabnehmer nie ausgeliefert wurde. Ein Brief, in dem Prince im Juni 1984 seinem Fan Annalisa The Great zum Junior-High-Abschluss gratuliert: „Ich war in der Schule ein hoffnungsloser Fall. I was 2 busy listening 2 the grass grow.“
Nichts in diesem Museum ist jünger als die 80er-Jahre. Und auch wenn man selbst dazu tendiert, lieber das Pure-Freude-Album „Parade“ von 1986 aufzulegen statt der wechselhaften 1999er-Platte „Rave Un2 the Joy Fantastic“, so kann man hier doch richtig tobsüchtig werden vor lauter bequemer, zeitvergessener Prince-Nostalgie. Der Mann lebt doch, wir haben’s gesehen!
Schwerfällig erklärt das Mädchen im Café-Shop, es habe mal so einen speziellen Kugelschreiber mit lila Mine gegeben, aber der sei vergriffen. Sie habe sich auch nie für Prince interessiert. Sie wollte immer Schauspielerin werden.
Mit dem Begeisterungsmangel steht sie in der Stadt ziemlich allein da. Als 2008 für den Minnesota History Center im benachbarten St. Paul eine Schau mit den wichtigsten Personen der 150-jährigen Geschichte das Bundesstaates zusammengestellt werden sollte, erhielt Prince – der Oralsex- und Masturbations-Experte, der Tipper Gore 1985 zur Gründung ihrer Songtext-Kontrollbehörde bewegt hatte – eine überwältigende Menge an Nominierungen. Ein Mädchen beispielsweise schrieb als Begründung, sie sei an ihrem Ostküsten-College immer nur für ihre hinterwäldlerische Herkunft bemitleidet worden – bis sie den Leuten erklärte, dass Minneapolis doch der Schauplatz von „Purple Rain“ sei. Ein anderer kommentierte: „Er hat die Amerikaner darauf aufmerksam gemacht, dass wir überhaupt existieren.“
Wie schon gesagt: Jeder hier hat seine Prince-Geschichte. Vom ägyptischen Imbissbetreiber bis zum Kneipenwirt, der ihn in der Schulzeit bei Highschool-Talentshows erlebte und später beim Bau von Paisley Park die Auffahrt betonierte. Von Natalie, deren gute Freundin mal was mit Prince hatte und die man in einem bestimmten Video vorne rechts tanzen sehen kann, bis zu Lisa, deren Onkel exotische Tiere sammelt und für die nächtlichen Partys in Chanhassen immer ein paar Vögel liefern musste.
Der Künstler selbst, 1958 als Sohn ein Jazzmusikerpaares geboren, im Norden der Stadt aufgewachsen und bis auf die kurze Zeit in L.A. nie aus der näheren Umgebung verschwunden, kultiviert in seinem sonst so glamourös-spirituellen Werk einen überraschenden Lokalpatriotismus. Für das örtliche Footballteam Vikings (Vereinsfarbe: lila!) schrieb er kürzlich eine neue Hymne. Im unbetitelten Bonustrack des neuen Albums „20TEN“ platziert er sich explizit als Sohn aus dem „Herzen von Minnesota“. Minneapolis tauft er „Funkytown“.
Sogar der Kellner im Bunker’s, optisch ein strammer Redneck, freut sich enorm, wenn man ihn auf den Popstar anspricht. Der holzdunkle Laden im Warehouse District stinkt schon am frühen Samstagnachmittag nach Popcorn-Butter, hier gibt’s Baseball statt Letterman. Einen krasseren Gegensatz zum Veganerparadies Paisley Park kann man sich kaum denken. „Erst letzte Woche ist er wieder hier aufgetreten!“ schwärmt der Mann. „Wenn Dr. Mambo’s Combo ihren Abend machen, kommt er öfter mal als Gast auf die Bühne. Unglaublich toll ist das immer!“ Einige Mitglieder der Bunker’s-Hausband spielten früher bei der Prince-Begleitgruppe New Power Generation, daher die Verbindung. Dann wird plötzlich ein Telefon gereicht, vom eifrigen Kellner. Er hat schnell seinen Freund J.D. Steele angerufen, der den Künstler seit den 70ern gut kennt und öfter im Background gesungen hat. „Prince ist ein Mann, der einfach seinen Überzeugungen folgt“, erklärt Steele feierlich, „und im Moment sieht er mehr Sinn und Bestimmung in seinem Leben als je zuvor. Sein Herz und sein Hirn stehen in so regem Austausch miteinander, wie man es bei Menschen selten findet.“
Es fühlt sich so an, als würde man im Städtchen umhergehen und die Bürger fragen, wie sie den ominösen König finden, der einsam im Schloss vor den Toren haust. Und keiner, keiner sagt etwas Schlechtes über ihn. Obwohl die meisten ihn seit Jahren nicht gesehen haben.
„Er sorgt schon dafür, dass die Leute seine Anwesenheit spüren“, meint Dustin Meyer, langjähriger DJ in der Prince-Entourage, heute Resident in der örtlichen Saturday-Night-Disco Envy. Früher gab es ja auch die berühmten Partys in Paisley Park: Um Mitternacht bekam Meyer meistens den unangekündigten Anruf, zwei Stunden später war die Bude voll mit schnellentschlossenen jungen Leuten, bis fünf Uhr feierte Prince mit ihnen. „Klar benimmt er sich manchmal seltsam. Aber das macht er mit Absicht, um das Geheimnis zu wahren.“ Warum er 2006 wohl nach Los Angeles zog? „Keine Ahnung. Aber er ist ja zurückgekommen. Er kommt immer zurück.“
Könne übrigens gut sein, mutmaßt Meyer, dass Prince heute abend noch im Envy vorbeischaut. Falls ja, gibt er Bescheid.
Währenddessen ist im Cabooze, am Ostrand von Downtown, alles bereit fürs größte Klassentreffen des Wochenendes. Die Helden des Minneapolis-Sound haben sich schon miteinander warmgespielt, zeitweise mit 15 Mann auf der Bühne: die Gitarristen Dez Dickerson und Mike Scott, die Keyboarder Tommy Barbarella und Dr. Matt Fink, Bassist Sonny T, Rapper Tony M – sie alle haben irgendwann mal bei Prince oder in anderen Paisley-Park-Bands gespielt, länger oder kürzer, wichtiger oder unwichtiger. „Family Reunion“ nennen sie ihr jährliches Großkonzert, auch das ist Nostalgie, aber anders: Man muss halt ab und zu zusammenkommen, um deutlich zu machen, dass hier in Minneapolis wirklich noch alle da sind. Dass man in touch miteinander ist, eine Art stadtweite Musikerkommune, auch wenn der Platz am Kopf der Tafel leer bleiben wird. Vermutlich. Es sei nicht ganz unwahrscheinlich, dass Prince heute abend auftauche, nuschelt einer. Weil er ja immer gerade dann käme, wenn es keiner glaubt.
„Er sieht mich häufiger als ich ihn!“ amüsiert sich polternd Michael Bland, der überdimensionale Schlagzeuger, Ex-New Power Generation, mittlerweile Drummer bei Jonas-Brother Nick und Mitglied der besagten Bunker’s-Hausband, heute abend musikalischer Leiter beim Ehemaligentreff. „Wenn Prince kommt, kommt er durch die Küche, setzt sich hinten hin, und später erzählt mir jemand: Übrigens, Prince war da. Und ich: Oh, cool!“
Vor ein paar Jahren, bei einem gemeinsamen Abend im New Yorker Club Nell’s, hat Bland miterlebt, wie aufsässig die Gaffer werden können. „Deswegen ist er auch aus L.A. zurückgekommen. Dort interessieren sich so viele Leute aus den falschen Gründen für dein Leben. Hier ist er der hometown hero und kann jederzeit Gemüse einkaufen gehen.“ Ohne Bodyguards? „Bodyguards? Mann, wir sind in Minnesota!“
Ein aufdringlich zurechtgemachter Prince-Doppelgänger ist dann tatsächlich im vollen Saal vertreten, als die Show losgeht und die All-Halbstar-Band „Head“ spielt, das Cunnilingus-Fellatio-Stück aus der „Dirty Mind“-Zeit, die Blaupause des Minneapolis-Sound aus Funk und New Wave, mit dem irren, wirren Synthesizersolo von Dr. Fink. Der Komponist selbst hat es längst aus dem Programm verbannt, aus religiösen Gründen. Bestimmte Prince-Stücke kann man nur dann hören, wenn er nicht dabei ist.
Wie er selbst die Show wohl fände? Im Publikum sicher öde, als Mitspieler auf der Bühne wohl grandios. Prince wird an diesem Samstagabend übrigens weder im Cabooze gesehen, noch im Envy, wo Dustin Meyer auflegt, noch in Cousin Mohammeds Restaurant Java. Keiner findet das komisch. Vielleicht haben manche ja das Gefühl, dass er trotzdem heimlich zuschaut, von einem Bildschirm oder Ausguck in Paisley Park. Weil er einer von ihnen ist. Die Geschichten, die auch an diesem Abend wieder erzählt werden, klingen noch immer frisch. Ob sie nun alle wahr sind oder nicht.
Am Tag davor, auf dem Weg zur Ausgangstür, hatte Prince übrigens noch eine eher überraschende Ankündigung gemacht. Er werde bald Einiges umdekorieren, und dann solle Paisley Park zum offenen Haus werden, das jeder besuchen kann. Wie ein Museum, eine Kirche? „Immer diese Fangfragen!“ Wie Graceland, könnte man auch sagen. Ein Wohlfühlraum zu Ehren des abwesenden, anwesenden Künstlers. Auch die Partys sollen wiederkommen. „Wir werden dieser Stadt schonend beibringen“, sagt Prince, konspirativ murmelnd, „dass wir wieder da sind.“
Prince lebt nicht nur im Jetzt. Er lebt auch hundertprozentig im Hier.