CD: New Noises Vol. 116
'Long Hot Summer': Ob junger Berliner Indie-Charme oder Rückkehr alter Helden, ob nostalgisch oder experimentell – unsere Juni-CD bietet ein breites Spektrum an herrlichen Popsongs.
01 Seit nunmehr zehn Jahren bezaubert die Berliner Musikerin Kitty Solaris mit ihrem smarten LoFi-Pop, den sie auf dem Titeltrack ihres neuen Albums clubtauglich aufpimpt. Was natürlich eine ironische Finte ist: „We Stop The Dance“ funktioniert als Antithese zu Bryan Ferrys kühlem Disco-Pop-Klassiker „Don’t Stop The Dance“. Solaris zeigt, dass sich auch zu unterproduzierten Beats prächtig tanzen lässt. Wurde echt mal Zeit!
02 Weniger unbekannt auf den internationalen Tanzböden sind die Experimente des englischen TripHoppers Adrian Matthews alias Tricky, der nach drei Jahren Pause wieder Pop, Rock-Zitate, subtile Beats und HipHop-Einflüsse mischt – und sich über „False Idols“ echauffiert. Manchmal auch über unsere Zeit, in der „Nothing Matters“. Unter der glatten Oberfläche rumoren – wie so oft bei Tricky – die sozialen Spannungen.
03 Eine weitere tolle Berliner Entdeckung sind My Sister Grenadine, hinter denen sich im Wesentlichen der Songwriter Vincenz Kokot verbirgt. Mit einem fragilen Liedgerüst aus Ukulele, Geige, Trompete und Glockenspiel erinnert seine Musik manchmal an Tom Liwas „Goldrausch“, dann wieder singt Kokot, als hätte David Byrne die Milk Carton Kids als Backing Band ins Studio beordert. Das hier vertretene „Porcelain“ ist ein aufwühlendes, unruhig pulsierendes Folkstück.
04 Entgegen derzeitiger Retro-Trends gibt sich die multitalentierte Songwriterin Valerie June nicht soundverliebt, auch wenn ihr famoses aktuelles Album „Pushin’ Against A Stone“ ganz klar amerikanischen Musiktraditionen verpflichtet ist, von Soul bis Blues, von Gospel bis Bluegrass. Eine luftig groovende Ballade wie „Wanna Be On Your Mind“ zeigt, dass June nicht nur in Nostalgie schwimmt, sondern aus ihr eine neue Ursprünglichkeit schöpft.
05 Wie man die Grenzen zwischen den Genres ebenso schnell überqueren kann wie die zwischen Ländern, beweist der in Bolivien geborene und inzwischen in Berlin lebende Songwriter David Lemaitre, dessen Debütalbum sich anhört, als hätten sich Bon Iver und Sufjan Stevens zu einer Beach-Boys-Hommage zusammengetan. „Megalomania“ treibt durch leichte Akkorde und schwebende Harmoniegesänge.
06 Die Geschichte von Eva & Manu klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Eine Finnin und ein Franzose treffen sich in einem Bostoner Club, verlieben sich, beschließen kurz darauf, quer durch Europa zu reisen, und entdecken obendrein, dass sie auch musikalisch ziemlich gut harmonieren. So gerät ihr erstes Album zu einer Feier der Zweisamkeit. Bestes Beispiel: das elegant-leichtfüßige „Hold On“.
07 Wie man Avantgarde und Pop kombinieren kann, ohne dass es in verkopfte Versuchsanordnungen ausartet, demonstriert das Klangkollektiv Ritornell um Kreativkopf Richard Eigner, der unter anderem schon für Patrick Wolf Schlagzeug spielte. „Cherry Blossom“ verhandelt philosophische Fragen („What if everything outside this moment is a lie?“) über einem eng verwobenen Sound-Teppich aus gläsernem Summen und elektronischen Geisterstimmen.
08 Für ihr neues Album „Mama“ suchte die New Yorker Songschreiberin Emily Wells einen geeigneten Rückzugsort und mietete eine kleine Hütte auf einer Pferderanch im kalifornischen Topanga Canyon, wo die klassisch geschulte Violinistin auch gleich Schlagzeug und Keyboard einspielte und selbst produzierte. Was sicher der Grund dafür ist, dass in einem Song wie „Darlin’“ die Instrumente behutsam um Wells’ etwas hexenhaften Gesang arrangiert sind.
09 In schönster Folk-Melancholie schwelgt ein neues dänisches Quintett mit dem geheimnisvollen Namen Dangers Of The Sea. Sänger Andreas Estrup studierte zunächst Jazz-Schlagzeug und schrieb seine empfindsamen Folksongs nur nebenbei, bevor er auf die Idee kam, seine Lieder befreundeten Musikern vorzuspielen, mit ihnen eine Band zu gründen und die „Sheer Desperation“ mit der Wärme akustischer Gitarren zu besiegen.
10 Nach Experimenten mit dem deutschen Krautrock-Pionier Hans-Joachim Roedelius veröffentlicht Lloyd Cole wieder ein Soloalbum. Beeindruckt von Bob Dylans „Tempest“-Platte holt Cole noch einmal zum großen Wurf aus. „Standards“ ist tatsächlich eines seiner schönsten Werke, mit fantastischen Balladen und süffig instrumentierten Mid-Tempo-Rockstücken wie dem selbstironischen „Period Piece“.