Rückblick 2024: Die Ampel hinterlässt ein schwieriges Erbe
Die von Olaf Scholz geführte Ampel-Koalition macht ratlos. Hier sind jede Menge nicht gestellte Fragen.
Man kann nicht eine Gesellschaft verändern, ohne über die wirklichen Probleme zu diskutieren. Das ist der bundesrepublikanische Befund in a nutshell. Aber halt auch leicht dahingeschrieben und schwer zu ändern, ansonsten wäre das ja nicht seit mindestens zwei Jahrzehnten so.
Die sogenannte Ampel, also die letzte Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP, war insofern nicht so scheiße, wie sie von der Mediengesellschaft hingestellt und wahrgenommen wird. Aber sie hat es nicht geschafft, die liegen gebliebenen und sich potenzierenden Probleme der Merkel-Jahre wirklich anzugehen. Das liegt – sorry, Emo-Spoiler! – nicht nur oder zuvorderst an Christian Lindner und der FDP, sondern es liegt an der Partei, die 22 der letzten 26 Jahre in der Regierung war. Also an der SPD.
Gesellschaft und Politik können sich auf keine Zukunftsrichtung einigen
Zunächst mal muss man berücksichtigen, dass die Unfähigkeit der drei Parteien, sich auf gemeinsame Politik zu einigen, auch darauf zurückzuführen ist, dass die Gesellschaft heterogen und individualisiert und bis zum Beweis des Gegenteils nicht in der Lage ist, sich auf eine grobe gemeinsame Zukunftsrichtung zu verständigen. Die einen wollen dies nicht, die anderen wollen das nicht, zu wenige wollen oder können selbst aktiver oder gar gebender Teil von Veränderung sein. Weil viele nicht davon ausgehen, dass Veränderung für sie etwas Gutes bedeutet.
Die historisch völlig verständliche Fixierung der politischen Denkkultur auf Verteilungsfragen und gesellschaftspolitischen Fortschritt, auf fossiles Wachstum und Rechts-Links-Sortierung – in der bequemen Annahme, grundsätzlich laufe der auf CO2-Wachstum und Weltfrieden zielende Wohlstandsladen ja unbegrenzt – hat die Verdrängung von essenziellen Grundlagen als Kollateralschaden mit sich gebracht, zuvorderst die Bewahrung der planetarischen und liberaldemokratischen Grundlagen.
Die Politik dieser Bundesregierung hat also weder zur Behebung der zentralen Probleme gepasst noch zur Stimmung der Mehrheit. Und diese beiden Realitäten, die objektive und die gefühlte, liegen weit auseinander. Wenn man dies alles berücksichtigt und trotzdem etwas ändern will, so ist die Frage: Was war denn der größte Scheiß der Ampel? Antwort: Es war nicht Lindners Rein-raus-Kamikaze, es war nicht Habecks Versuch, Deutschland dem unterschriebenen Klima-Vertrag von Paris durch Emissionssenkungen im Gebäudesektor real anzunähern („Heizungsgesetz“) – es ist die Europa-Politik, für die zuvorderst Olaf Scholz und das Kanzleramt verantwortlich sind.
Vertrauen in EU verspielt?
Zuallererst etwas, das im Wahlkampf keine Rolle spielt. Scholz hat zugelassen, dass die FDP mit zwei Last-minute-Interventionen – im Fall des Verbrennungsmotors und der Lieferketten – die ungeschriebenen Regeln europäischer Entscheidungsfindung ignoriert hat. Das hat nicht nur das Vertrauen in die deutsche Regierung in Brüssel als verlässlicher Partner schwer beschädigt. Wenn das Nachahmer findet, ist der Gesetzgebungsprozess in Brüssel bedroht. Fatale Politik gegen andere Mitgliedsstaaten kennen diese bereits aus dem Energiebereich.
Deutschland und im speziellen die SPD hat seit Anfang der Nullerjahre gravierende außenpolitische Entscheidungen getroffen oder nicht getroffen, die sich desaströs kumuliert haben. Ich nenne nur mal: Nord-Stream-Pipelines 1 und 2 als geopolitisches Machtinstrument Russlands und Bedrohung Osteuropas, die sogar nach 2014 noch defensive Egon-Bahr-Gedächtnispolitik, die – okay, hinterher ist man immer schlauer – Putins Angriffskrieg auf die Ukraine förderte.
Der größte Fehler der Ukraine aus heutiger Sicht war der Verzicht auf ihre Atomwaffen Mitte der 90er-Jahre, wofür ihnen Russland Souveränität und Achtung ihrer Grenzen (!) garantierte. Es ist für uns Emanzipatorisch-Gutgläubige ein harter Schlag, aber so etwas – gegen autoritäre Regime und Terror-Cliquen humanistisch in Vorleistung gehen – darf man nie mehr machen. Jedenfalls wenn man nicht angegriffen werden will.
Deutschland ist weiterhin ohne eigene Atomwaffen, womöglich demnächst ohne amerikanischen Atomschirm und – Stand jetzt – ohne ein Europa, das sich ernsthaft organisiert, um militärisch und ökonomisch stark genug zu sein gegen die Kräfte, die den freien und einigermaßen emanzipatorischen und sozialen Westen as we knew it überwinden wollen. Dazu gehören Sahra Wagenknecht, die AfD, europäische Rechtspopulisten, ein paar Restmarxisten und mutmaßlich auch Trumps Amerika.
Alle klammern sich an die Vergangenheit
Don’t get me wrong: Es ist verständlich, Angst vor der Zukunft zu haben. Aber man wird sie und die Probleme nicht los, indem man nicht über die unangenehmen Dinge redet, sondern indem man sich ihnen stellt. Das klingt sicher pastoral oder vulgärpsychologisch, aber so ist die Lage.
Die Alternativen, die Progressiven, die Disruptiven und „Alles muss anders werden“-Leute kommen heute von der anderen Seite des alten politischen Spektrums. Die früheren Volksparteien, gerade jene, die sich „progressiv“ nennt, klammern sich an gestern, die „linksprogressiven“ Milieus dito. Die zentrale progressive Entwicklung der SPD in den letzten zwei Jahrzehnten waren die Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder selig. Das gilt dort als der größtem Sündenfall ever.
Und auch die Grünen werden von Kulturlinken an ihren „Idealen“ des 20. Jahrhunderts gemessen und moralisch abgewertet („rechts!“), wenn sie sich den Problemen von heute auch nur ansatzweise annähern. Robert Habeck hat die europäische Zentralaufgabe im Wahlkampf in seine Reden eingebaut, aber auch hier ist zu konstatieren, dass viele an anderen Stellen geklatscht haben und jubiliert, so wie man jubiliert, wenn eine Band im Konzert endlich ihre alten Hits spielt.
Das Problem ist: Es gibt auf die großen Fragen noch keine Antworten. Deshalb braucht es jetzt jemanden, der sie zumindest stellt. Nicht an der Seitenlinie, sondern in der nächsten Bundesregierung