Musiker trifft Musiker: Chilly Gonzales und Marcus Wiebusch

Der Pianist/Rapper und der Kettcar-Sänger/Songschreiber über die komplizierte Trennung von Werk und Autor

Chilly Gonzales und Marcus Wiebusch Foto: Katja Ruge. Katja Ruge. All rights reserved.

Chilly Gonzales und Marcus Wiebusch Foto: Katja Ruge. Katja Ruge. All rights reserved.

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Am Vorabend hat Chilly Gonzales in der Elbphilharmonie Klavier gespielt – zusammen mit Igor Levit, der Antilopen Gang, Dirk von Lowtzow und vielen anderen. Ein Solidaritätskonzert: „Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus.“ Nun sitzen wir im achten Stock des mächtigen Gebäudes, im Hotel The Westin, und machen uns erst mal bekannt. Gonzales hat schon mit Daft Punk und Jarvis Cocker aufgenommen, changiert zwischen seriöser Neoklassik und skurrilem HipHop. Kettcar verkaufen mit ihrem Indie-Rock inzwischen auch die Hamburger Sporthalle aus. Chilly Gonzales fragt, was ein Kettcar ist. Marcus Wiebusch fragt, ob es Kaffee gibt. Gesprochen wird ein buntes Deutsch-Englisch-Kauderwelsch, hier der Verständlichkeit halber eingedeutscht.

Im April haben beide Musiker gleichzeitig – ohne voneinander zu wissen – Songs veröffentlicht, die sich mit Richard Wagner beschäftigen: Gonzales’ „F*ck Wagner“ war etwas eindeutiger als Kettcars „Kanye in Bayreuth“, doch beide kommen zu ähnlichen Schlüssen. „So, can the artist and the art ever be se­pa­ra­ted?/ It’s hard to boy­cott some­thing that you love/ But it’s easy if you hate it“, sprechsingt Gonzales. „Dass Moral hier objektiv ist, das glaub ich kaum/ Gegen Wagner ist jedes Arschloch ein Pausenclown“, singt Wiebusch (obwohl er hier auch fast rappt). Natürlich beginnt das Gespräch also mit dem umstrittensten deutschen Komponisten – und kommt auch immer wieder zu ihm zurück.

Was machen wir mit großer Kunst von großen Monstern?

Rolling Stone: Wusstet ihr vorher, dass diese beiden thematisch so ähnlichen Stücke zeitgleich erscheinen würden?

Marcus Wiebusch: Nein. Ich habe 2015 Chilly mit Dendemann bei Böhmermann gesehen (wo sie eine frühe Version von „F*ck Wagner“ spielten) – da wusste ich also schon, dass Wagners Anti­semitismus bei ihm auch ein Thema ist. Aber dann sind ja einige Jahre ins Land gegangen, und als nun unser Song rauskam und am selben Tag sein „F*ck Wagner“, da habe ich schon gedacht: Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Bei mir brodelt das ja auch seit Jahrzehnten.

Was ich so spannend fand, ist, dass wir da ziemlich deckungsgleiche Ansätze haben – wie schwierig es ist, Werk und Autor zu trennen. Ich fasse das in „Kanye in Bayreuth“ noch weiter, wie man schon am Titel erkennt. Wobei es bei Chilly ja auch heißt: „Harder, faster, better, stronger/ Kanye West is the brand-new Wagner.“

Chilly Gonzales: Ende 2022 ist Kanye ja den full Wagner gegangen! Mit so eindeutigem Antisemitismus. Für mich stand seitdem noch mehr die Frage im Raum: Was machen wir mit großer Kunst von großen Monstern? Diese Parallelen zwischen einem scheußlichen Menschen wie Wagner und einem scheußlichen Menschen wie Kanye West liegen ja auf der Hand. Wir haben auch beide R.‑Kelly-Referenzen in unseren Songs, oder?

Morrissey ist der größte lebende Texter für mich, das ist meine subjektive Meinung. Objektiv betrachtet ist er ein „böser“ Mensch.

RS: Wenn es sich nicht klar um Verbrecher handelt, ist eine Frage auch immer: Wie sehr soll man den zeitlichen Kontext von problematischen Handlungen und Äußerungen miteinbeziehen?

Wiebusch: Bei Wagner kann man ganz klar sagen: Als der gelebt hat, war der Antisemitismus im Bürgertum schon sehr verankert. Aber das Besondere an Wagner ist ja, dass er dieses Pamphlet, „Das Judenthum in der Musik“ (1850 erschienen), zuerst unter Pseudonym geschrieben hat. Selbst ihm war das damals offensichtlich zu hart. Mit steigender Popularität hat er es dann als Richard Wagner veröffentlicht – und was da drinsteht, das ist einfach abgrundtief antisemitisch. Und das ist dann auf fruchtbaren Boden bei den richtigen Monstern gefallen – wir wissen ja, dass Hitler glühender Wagner-Fanboy war. Das macht es natürlich noch tausendmal ­pro­ble­ma­ti­scher.

Aber um auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Der zeitliche Kontext muss meiner Meinung nach immer berücksichtigt werden. Wenn ein Künstler in den Siebzigern irgendwas gesagt hat, dann müssen wir das heute anders bewerten als etwas, das gerade gesagt wurde. Ich habe jüngst mal einen alten AC/DC-Text aus den Siebzigern gelesen, da denkt man schon: Alter Schwede! Was ist denn das für ein ­Frauenbild?

Gonzales: Bei Wagner bringen die Leute ja gern dieses Argument: Damals waren alle ein bisschen antisemitisch. Aber mit diesem Aufsatz ist Wagner in einer anderen Kategorie. Auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit und seines Einflusses hat er den Antisemitismus unterstützt und bestärkt, also Benzin auf das Feuer gegossen, das in der Gesellschaft eh schon loderte.

Was natürlich schon stimmt, ist, dass sich der moralische Rahmen im Laufe der Zeit verschieben kann. Vielleicht sagen die Leute in zweihundert Jahren: All die Menschen, die Fleisch gegessen haben – das war doch moralisch verboten! Manchmal esse ich Fleisch, weil ich kein perfekter Mensch bin, und fühle mich dann unwohl. Andererseits bin ich immerhin nicht der Chefredakteur vom „Beef“-Magazin. Ich fördere den Fleischkonsum nicht, aber ich gebe manchmal meinen Gelüsten nach. Die wenigsten Menschen sind moralisch hundert Prozent perfekt. Aber Wagner ist wirklich eine komplett eigene Hausnummer.

RS: Was macht man denn nun, wenn der/die Künstler:in ein moralisch zweifelhafter Mensch ist – aber man liebt die Musik von denen?

Gonzales: Da soll sich doch jeder bitte seine eigene Meinung bilden und das für sich entscheiden! Warum muss man vorgeben, wie jeder Einzelne das handhabt? Wir haben ja starke emotionale Bindungen zu manchen Songs – sie waren vielleicht die Soundtracks zu unserem Erwachsenwerden oder sind für uns mit einer Liebe verbunden. Das ist viel stärker als eine intellektuelle Entscheidung. Man kann nicht einfach einen Schalter umdrehen und die perfekte Meinung haben.

Für mich war zum Beispiel Morrissey ein sehr wichtiger Songwriter, als ich dreizehn war. Wenn ich jetzt merke, dass ich seine politischen Ansichten gar nicht teilen kann, dann ist doch die emotionale Bindung an seine Songs trotzdem noch da. Zum Glück oder zum Pech – wie man es sehen will. Deshalb heißt es in meinem Song: „It’s hard to boy­cott some­thing that you love/ But it’s easy if you hate it.“ Ich mag Woody-­Allen-­Filme nicht besonders oder ­Louis C.K.s Comedy, das kann ich locker links liegen lassen. Aber manchmal möchte ich einen R.‑Kelly-Song hören oder einen Burger essen, trotz des schlechten Gewissens. Jeder muss das für sich entscheiden. Wir können doch kein Regelwerk aufstellen, das alle zu befolgen haben.

Wiebusch: Das ist eine sehr gute Zeile! Moral ist eben nicht objektiv, nicht wirklich. Morrissey ist der größte lebende Texter für mich, das ist meine subjektive Meinung. Objektiv betrachtet ist er ein „böser“ Mensch. Und „böse“ heißt hier: durch und durch rassistisch. Diese beiden Welten clashen miteinander, und was dann? Ich habe diesen Song auch geschrieben, weil ich es problematisch finde, wenn Leute dann in Petitionen aufrufen: Kein Michael Jackson mehr im Radio! Social Media befeuert natürlich diese Tendenz zu sagen: „Der böse, böse Künstler! Der darf nicht mehr vorkommen in der Weltöffentlichkeit!“ Das lehne ich ab, genau wie ­Chilly. Jeder hat das Recht, Wagner zu hören, wenn er das möchte. Salopp gesagt: Das Werk kann ja nichts dafür, dass der Typ, der es geschrieben hat, so ein Arschloch war. Ob man in Bayreuth oder sonst wo Richard-Wagner-Statuen aufstellen muss, das kann man natürlich fragen.

RS: Ein Argument gegen das Hören ist ja oft: Mit dem Kauf der Alben, mit Radio-Airplay und so weiter unterstützt man diese schlimmen Leute (oder ihre Erben).

Gonzales: Aber dann spielen wir doch wieder nur das alte Kapitalismus-Spiel! Das heißt dann: Die einzige Macht, die wir haben, ist, denen unser Geld zu entziehen – oder die Aufmerksamkeit, was heute oft aufs Gleiche hinausläuft. Ich glaube, das ist eine zu einfache Lösung. Und es klingt auch ein bisschen nach: Ich gucke da nicht hin, also existiert es nicht! Das funktioniert nicht.

Wagner ist doch ein Einzelfall. Er war ein Genie, und er war ein Antisemit – und beides sind wir nicht unbedingt alle.

RS: Warum würden denn manche Menschen gern alles verbieten, was ihnen nicht passt?

Wiebusch: Oft ist es ja so, dass Leute, die sich als moralisch „gut“ empfinden, denken, sie haben dadurch einen Einfluss auf das „Schlechte“. Wenn ich unterschreibe, dass Michael Jackson nicht mehr gespielt werden darf, dann tue ich etwas Gutes. Dann bekämpfe ich das „Böse“, dann wird die Welt etwas besser. Aber so ist es ja nicht! Wir müssen uns überhaupt mal von der Vorstellung lösen, dass Künstler bessere Menschen sind. Sind sie nicht! Die sind genauso Menschen wie Klempner oder Dachdecker. Sie erreichen nur mehr Leute, deren Herz und ­Verstand.

Gonzales: Viele projizieren ja einfach alles Schlechte in Künstler hinein – dann haben sie das Monster der Stunde, einfache Zielscheibe, alles klar. Ich denke, man sollte einen anderen Ansatz wählen: Man sollte sich selbst in dem Monster sehen – und das Monster in sich selbst. „We are all Richard“, heißt es in meinem Song. Er war ein extremer Fall, aber angelegt ist das in uns allen.

Wiebusch: Das ist der einzige Punkt, wo ich Chilly widersprechen würde – meine einzige kleine Kritik an dem Song. Da haben wir einen Dissens. „We are all Richard“? So wie du es eben beschrieben hast, verstehe ich das schon, aber das neigt so verkürzt doch zum moralischen Relativismus – und das mag ich überhaupt nicht. Das klingt so nach: Wenn alle böse sind, ist es auch schon egal, ob und wie böse ich bin. Das macht eine problematische Tür auf.

Gonzales: Aber wenn die Tür komplett geschlossen ist, funktioniert es auch nicht, oder? Wenn man den bösen Wagner als von sich selbst losgelösten Einzelfall sieht, stimmt das eben nicht.

Wiebusch: Aber Wagner ist doch ein Einzelfall. Er war ein Genie, und er war ein Antisemit – und beides sind wir nicht unbedingt alle.

Gonzales: Aber was steckt dahinter? Doch seine eigenen Unsicherheiten, seine eigenen Ängste. Er wollte andere für das verantwortlich machen, was ihn in seinem Leben gestört hat. Das soll keine Entschuldigung sein, auf keinen Fall! Aber das menschliche Grundgefühl, aus dem er gehandelt hat, das kennen wir alle – das wollte ich damit sagen. Wir müssen die Hintergründe genauer angucken, sonst kommen wir nicht ­voran.

Wiebusch: Aber der Satz „Wir sind alle Wagner“ – das stimmt doch einfach nicht.

Gonzales: Wir haben alle das Potenzial, Wagner zu sein: Das ist damit gemeint.

Wiebusch: Ja, richtig! Darauf können wir uns einigen.

Gonzales: Sorry, die Zeile hatte nicht genügend Silben dafür! (Beide lachen.)

Wiebusch: Das sind eben die Grenzen der Popmusik! Man hört nur den einen Satz und denkt: Nein. Bei mir gehen da immer sofort die Alarmglocken los, weil man am Ende des Tages immer sagen kann: Egal was ich mache, Hitler war schlimmer. Deshalb finde ich den Satz an sich schwierig, weil er ja nicht mit der längeren Erklärung kommt.

Gonzales: Okay, „We all have the po­ten­tial to be Richard“, da sind wir uns dann doch einig. Das ist etwas, worüber ich schon sehr lange nachdenke. Mein Vater hat mich mit nach Bayreuth genommen, als ich sechzehn war. Er ist ein großer Fan der Opern, aber er ist auch ein Jude. Also habe ich ihn gefragt: Wie geht das, wie kannst du diesen Typen verehren? Und er sagte: Ich versuche das Werk vom Autor zu trennen. Diese Frage habe ich seitdem also im Kopf. Dann kam diese ganze Cancel-­Culture-­Debatte dazu, das Kanye-­Ding, und ich lebe ja in Köln, ich laufe jeden Tag die Richard-Wagner-Straße entlang. Irgendwann schrieb ich „Fuck Wagner“ auf einen Zettel, und dann wusste ich zwei Jahre lang nicht, was ich damit anfangen soll.

Wut ist manchmal ein guter Startpunkt. Ich war so getriggert, wie das Leute online oft sind. Doch so einfach wollte ich es mir nicht machen, dabei wollte ich es nicht belassen. Der krasse Ansatz bringt die Leute hoffentlich zum Zuhören, aber dann soll es darüber hinausgehen. Ich würde hoffen, dass es dann eine nuancierte Diskussion gibt. Aber ich konnte den Song ja nicht „A Nu­anced Dis­cus­sion Of Wagner“ nennen. (Lacht.) Der Titel „Kanye in Bayreuth“ ist ja auch fucking mega – hat mir sofort Gänsehaut gemacht! Man muss die Leute so einfangen. Es sind Popsongs, keine Doktorarbeiten.

Wiebusch: Das Problem bei mir war: Ich schreibe ja meine Key-Songs wie „Sommer ’89“ oder „Der Tag wird kommen“ immer von einem moralischen, „guten“ Boden aus. Und so werde ich eben auch rezipiert – die Leute gehen davon aus, dass ich die Storys so ausbreite. Bei „Kanye in Bayreuth“ gibt es diesen festen Boden nicht.

Ich habe keine abschließende Meinung dazu, was zu tun ist. Es ist nicht eindeutig, es gibt auch keine normativen Sätze wie: „Man sollte, man könnte …“ Ich wollte nur den Diskurs aufmachen, ein paar Gedanken einbringen. Unser Produzent fand das schwierig, weil es sich von meiner üblichen Herangehensweise unterscheidet. Aber ist halt so. Ich mag die Metapher mit dem Grünen Hügel sehr: dieses Bild, dass man da raufmuss, um Wagners Musik hören – und auf dem Weg trennt man Werk und Autor.

[…]

Das komplette Gespräch zwischen Chilly Gonzales und Marcus Wiebusch gibt es in der aktuellen Ausgabe des ROLLING STONE.

 

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