Eric Pfeils Pop-Tagebuch: It’s not dark yet
Weshalb unser Autor sich an den Lebensphasen und dem gepriesenen Spätwerk von Bob Dylan orientiert.
Folge 273
Der Wonnemonat November ist für mich eine Jahreszeit von großer Bedeutung. Es liegt nicht allein daran, dass der November den Festtagsfreund in mir mit solch heiter stimmenden Spektakeln wie dem Volkstrauertag, dem Buß- und Bettag oder dem Totensonntag zu umgarnen weiß. Es liegt auch nicht nur daran, dass es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählt, daunenbejackt im strömenden Regen durch triste Straßen zu ziehen und daheim als Trost unablässig Kürbissuppe in mich hineinzulöfeln.
Nein, es verdankt sich vor allem dem Umstand, dass ich im November Geburtstag habe. Man kann es sich nicht aussuchen. Dieses Jahr werde ich so alt wie Bob Dylan, als er sein Meisterwerk „Time Out Of Mind“ veröffentlichte und damit sein viel gepriesenes Spätwerk einläutete. Schon seit einigen Jahren orientiere ich mich daran, in welcher Phase sich Bob Dylan gerade befand, als er im just von mir erreichten Alter war. Das baut natürlich Druck auf, keine Frage.
Auch ich müsste nun langsam mein viel gepriesenes Spätwerk einläuten. Es ließe sich vermutlich entspannter altern, wenn ich mich daran orientierte, in welcher Lebensphase sich der Saxofonist der fortgeschritten unbekannten italienischen Prog-Band Metamorfosi in meinem Alter befand. Aber aus irgendwelchen Gründen orientiere ich mich an dem beliebten amerikanischen Volkssänger.
In den letzten Jahren bin ich damit ganz gut gefahren. Als ich 45 wurde, konnte ich mir sagen: Sieh an, Bob Dylan hat in deinem Alter das Album „Knocked Out Loaded“ in den Sand gesetzt und in dem sensationell verkorksten Film „Hearts Of Fire“ seiner Filmpartnerin Fiona einen Kühlschrank voller Eier gezeigt. Unter dieser Prämisse ließ sich das Jahr entspannt angehen.
Oder nehmen wir mein 49. Wiegenfest: Wie gelassen stimmte es Ihren Chronisten, dass Dylan im Jahr vor seinem Fünfzigsten mehrheitlich eher, nun ja, unterkomplexe Texte verfasste: „Wiggle, wiggle, wiggle with your boots and shoes/ Wiggle, wiggle, wiggle, you got nothing to lose.“ Ach, es waren süße, unbeschwerte Zeiten.
Bob Dylans Spätwerk kam aus dem Blues
Aber jetzt: Spätwerk, noch dazu ein viel gepriesenes. Wo bitte soll man heutzutage ein halbwegs akzeptables Spätwerk hernehmen? Bei Dylan kam es aus dem Blues. Das stimmt schon wieder hoffnungsvoll, denn Blues gibt es ja genug. Wohin man das Ohr auch schweifen lässt, der Blues ist immer schon da. Kaum ist man aufgestanden, schon sitzt
er am Frühstückstisch.
Das wusste auch bereits Jürgen von der Lippe, als er mit „Guten Morgen, liebe Sorgen“ 1987 seinen größten Hit hatte. Da war er 39. Es braucht also neben dem Blues auch noch eine Portion Talent. „Angsthasen warten, Talente starten“, weiß der Volksmund.
Was ich wohl mache, wenn ich wie Bob Dylan 83 bin? Ich werde sicher nicht um die Welt touren und die Mehrzweckhallen dieser Welt mit der Gunst meines Lichts bedenken. Ich werde, sofern ich dann noch da bin, vermutlich in einem Ohrensessel sitzen, den ganzen Tag „Hearts Of Fire“ schauen und zwischendurch mal „Wiggle Wiggle“ lauschen.
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Vielleicht sollte mein viel gepriesenes Spätwerk ja darin bestehen, dass ich ein Buch über den Film (vor allem über die Eier-Szene) schreibe. Daraus könnte ich dann bis an mein Lebensende öffentlich vorlesen, zur Not auch in irgendwelchen Mehrzweckhallen.
Letztlich ist alles ohnehin viel komplizierter: Die italienische Prog-Band Metamorfosi hat überhaupt keinen Saxofonisten, dafür hat die italienische Prog-Band Cervello vier Flötenspieler. Auf „Knocked Out Loaded“ ist das völlig geniale „Brownsville Girl“ drauf, und „Wiggle Wiggle“ hat Dylan für seine zum Entstehungszeitpunkt vierjährige Tochter geschrieben.
Wir lernen: Die Möglichkeiten des Lebens sind unbegrenzt, zumindest solange das Wetter stimmt. „It’s not dark yet, but it’s getting there“, singt der Literaturnobelpreisträger auf „Time Out Of Mind“. Draußen gehen die Straßenlaternen an.
Ach November …