Das beste Soulalbum aller Zeiten: „What’s Going On“ von Marvin Gaye
What’s going on? Nichts Schönes, sogar die Apokalypse steht vor der Tür.
1. Marvin Gaye – „What’s Going On“
(Motown, 1971)
Im Gegensatz zum Listenwesen der Pop- und Rockhistorie singt der Soul-Kanon seit Jahrzehnten ein und dieselbe Platte an die Spitze. Zu Recht. Aber woran liegt das? Sicherlich nicht bloß am bis Ende der 60er-Jahre im Soul eher nebensächlichen Album-Format, das Marvin Gaye hier so meisterhaft erfüllt.
Atmosphärisch düster, schlaff, heavy und spirituell entrückt, ist „What’s Going On“ vom upliftenden, hitfixierten Motown-Sound der 60er-Jahre Lichtjahre entfernt. Spätestens 1970 hatte sich Gaye von seiner Rolle als Hit-Lieferant („I Heard It Through The Grapevine“) und Motown’s most charming man distanziert, um sich zurückzuziehen und die soziale Realität eines Amerika im Umbruch künstlerisch zu reflektieren.
Dafür musste auch ein neuer Sound her, den Gaye am besten selbst produzierte und Motown-Chef Berry Gordy erst gar nicht veröffentlichen wollte. Und das, obwohl es für Gayes Progressive Soul bereits mächtige Vorläufer gab. Schon 1969 hatte Isaac Hayes auf „Hot Buttered Soul“ Hit-Material und orchestral-funkige Jams zu psychedelischen Exkursionen ausgedehnt.
Die Platte ist tatsächlich ein waschechtes Konzeptalbum
Und mit seinem Solo-Debütalbum von 1970 war Curtis Mayfield ein Meilenstein des Seventies Soul gelungen, der kaum zu toppen war: Orchester-Arrangements und sozialer Realismus, tiefer Soul und leichte Lieder, die losen Enden ausufernder Percussion und das Gerüst kompositorischer Disziplin kamen hier zusammen. Im Zweifelsfall hat „Curtis“ sogar mehr gute Songs als „What’s Going On“ aufzubieten.
Aber weder „Curtis“ noch Stevie Wonders „Innervisions“ besitzen die konzeptuelle und ästhetische Kohärenz von „What’s Going On“. Die Platte ist tatsächlich ein waschechtes Konzeptalbum, weil sie das alteuropäische Ideal der organischen Totalität verwirklicht.
Wie in den großen Werken der klassischen Musik ist das „große Ganze“ noch im kleinsten Teil enthalten. Man hört das bei Gayes Meisterwerk ganz deutlich, das im Grunde nur aus drei bis vier Songs besteht, die soundtrackartig variiert und neu arrangiert, ausgedehnt oder komprimiert werden. Das wäre auch die Quintessenz von Prog, wie sie von den Beatles auf „Sgt. Pepper“ durchexerziert wurde und dank deren Popmusik zur „ernsthaften Kunstform“ avancieren konnte.
Die Nr. 1 im Soul wird sich nie ändern
In diese Entwicklung reiht sich nun ein Soul-Album ein, das fortan und für immer die Seriosität afroamerikanischer Popmusik belegen kann. Der Clou ist, dass die anspruchsvolle Progressivität der Musik flankiert wird von einem bis dato bei Motown unbekannten Klartext – oft aufbereitet in dialogischer Kommunikation. What’s going on? Nichts Schönes, sogar die Apokalypse steht vor der Tür.
Darauf können große Teile der Welt bis heute einsteigen. Die Nr. 1 im Soul wird sich nie ändern.