Kritik: Janet Jackson in Berlin – Die wirklich, wahrlich letzte ihrer Art
Hits hat Janet Jackson – aber wird noch über sie geredet? Ein solider Berliner Auftritt mit egozentrischer Message
Wofür steht Janet Jackson 2024? Sie hat kein „neues Album im Gepäck“, die Tour heißt unverbindlich „Together Again“. Schön, Greatest Hits also. Und davon hat sie sehr, sehr viele. Berlin ist der letzte Stopp ihrer Deutschlandtournee. Das letzte Mal war sie 2011 hierzulande unterwegs, in Berlin musste damals das Tempodrom dafür reichen. Das Konzert in der Arena am Ostbahnhof demonstriert nun, dass ihr Vermächtnis größer geworden sein könnte, auch wenn die Oberränge abgehängt sind. Die Show dauert 107 Minuten und enthält 39 Songs, rund drei Minuten also pro Nummer. Was gut ist. Ein Megamix, dem man sich schwer entziehen kann. Jukebox ohne Münznachwurf.
Viele davon muss sie in Medleys exerzieren, selbst vor „Nasty“ macht dieser Zug nicht Halt. Wie üblich bei R&B-Shows, die anscheinend stets in „Acts“ unterteilt werden müssen. Also „Act I“, „Act II“ und so weiter, und extrem viel „Impressionen einer musikalischen Reise“ unterbringen. Ausdruck einer verkünstelten Historizität. Als müsste dringend eine biografische Timeline berichtet werden.
Zehn Sekunden Szenen-Applaus
Auf der Bühne und im Saal: ein lebhaftes, absehbares, aber gar nicht unsympathisches Durcheinander von Headsets; Tänzer in italienischen Kostümen und Schottenröcken (wirklich nur Männer); hydraulischen Plattformen; Mehrzweckhallen-Schlagzeug-Echo; choreografiertes Sitz-Tanzen auf Stühlen; Stop-and-Go-Intonationen größter Hits, Freezing, damit es alle zehn Sekunden Szenen-Applaus gibt.
Und nicht zuletzt Leadgesängen, so klar und keuchfrei trotz extensiver Verrenkungen, dass sie wohl von allen anderen 58-jährigen Sängerinnen und Sängern nur vom Band stammen könnten.
„Ich habe so viel Glück gehabt, und ich bin so froh, eine Karriere geschafft zu haben“, ertönt Jacksons Stimme per Einspielung. Sie zieht sich derweil Backstage um. „Und ich genieße das jeden Tag“. Dazu gibt es auf den Leinwänden Bilderbuch-Einblendungen aus ihrer Kindheit, von den Jackson 5 sowie einem grimmig dreinblickenden Patriarchen Joseph. „Ich war doch nur ein kleines Kind.“ Und: „Ich liebe euch alle so sehr.“
Alte Popstar-Schule. Videos dienen hier nicht, wie Taylor Swift es beherrscht, der Einbindung der Follower durch direkte Ansprache, sondern allein der Bestätigung jenes Ausnahmetalents, dem sie auf der Bühne zujubeln.
Der Modebegriff „Nepo Baby“ ist wie für Janet Jackson gemacht. Sie ist das jüngste von zehn Kindern des einst mächtigen Jackson-Clans. Als ihre minderjährigen Brüder mit „I Want You Back“ 1969 ihre erste Nummer-eins-Platzierung in den „Billboard“-Charts feierten, war sie drei Jahre alt. Als Michael Jackson „Off The Wall“ herausbrachte, war sie 13. Nach zwei Flop-Alben veröffentlichte Janet 1986 „Control“, nun aber unterstützt von den Minneapolis-Sound-Produzenten Jimmy Jam und Terry Lewis. Und die Hits nahmen kein Ende mehr. Janet war erst 20.
„Scream“ mit Bruder Michael Jackson
Aber auch der Modebegriff „Selbstermächtigung“ ist wie für sie gemacht. Sie co-komponierte viele ihrer Songs, erfand mit dem Album „Rhythm Nation 1814“ – wohlgemerkt zwischen den Jahren, in denen Michael Jackson keine Platten herausbrachte – das Konzept einer eigenen alternativen Realität und wartete bis immerhin 1995 mit einem Duett („Scream“) mit dem überprominenten Bruder. Der war inzwischen auf ihre Prominenz angewiesen um selbst charten zu können.
Nach Michaels Tod 2009 avancierte Janet Jackson zum einzig übrig gebliebenen Star-Sprössling Josephs und Katherine Jacksons. Die Kinder, Enkel und Neffen, Jermaine, Jermajesty, all die Namen – man kennt sie nur noch als streitende Nachlassverwalter. Nach Janet ist niemand mehr gekommen aus Gary, Indiana, der heute noch Geltung hat. Paris Jackson und der Jackson-Junge, der Michael in einem Kino-Biopic spielen wird, sind durch und durch „Nepo“.
Mit „Finding Neverland“ und den Geschichten von Gewaltorgien des Vaters hatte Janet nie viel zu tun. Michael nannte sein letztes Album „Invincible“. Janet ihr jüngstes, von 2015, „Unbreakable“. Nach außen war bei den Jacksons immer alles auf Schutzschild gebaut.
Auf dieser Bühne singen Janet und Michael nun das virtuelle „Scream“-Duett, das Michael nach der ersten Anklage wegen sexuellen Missbrauchs aufgenommen hatte, aber als Gegenklage verstanden wissen wollte. Die Medien, die Richter, missgünstige Menschen im Allgemeinen hätten sich gegen ihn verschworen. Janet teilt diese Auffassung.
Der Zeitgeist hat sie ignoriert, und sie hat den Zeitgeist ignoriert
Eine politische Künstlerin war Janet Jackson indes nie. Der Zeitgeist hat sie ignoriert, und sie hat den Zeitgeist ignoriert. Wie so viele ausgerechnet in den 1960er-Jahren zur Welt gekommenen und in den 1980er-Jahren groß gewordene Popsängerinnen, Mariah Carey, Whitney Houston, Shania Twain, Jennifer Lopez, Celine Dion, fehlen ihr Schärfe und Wut. Madonna ist ein wenig älter als sie, und die heutigen, viel später geborenen „Stimmen ihrer Generation“, Beyoncé, Lady Gaga, Rihanna, vermitteln mit jedem Auftritt Werte, Ermunterung sowie Lektionen für ihre weiblichen Fans. Bei Janet geht es nur um ihre eigene Familie.
Sie wirkt in der Öffentlichkeit oft unsicher. Als sie zuletzt Zweifel an der ethnischen Identität Kamala Harris‘ äußerte, musste ein Sprecher danach versuchen, die Wogen zu glätten. Ihr „Nipple-Gate-Skandal“ beim Super Bowl 2004 wurde als „Wardrobe Malfunction“, nicht als feministisches Statement abgehakt.
Lady Gaga beruft sich auf Madonna als Pionierin. Aber wer beruft sich auf Janet Jackson? Von afroamerikanischen Musikerinnen wurde sie zuletzt selten als Idol genannt. Janet erteilt jüngeren Sängerinnen selten Ratschläge. Andererseits wird sie von ihnen auch nicht konsultiert.
Auf der Bühne macht sie nichts falsch. Ihre Hits, „Escapade“, das wunderschöne „Love Will Never Do (Without You)“, überhaupt die Proto-New-Jack-Swing-Lieder aus „Rhythm Nation 1814“, erinnern an glorreiche Zeiten der End-Achtziger. Das Album ist eine Fantasie über die Kraft, mit Liebe und Tanz den Faschismus zu besiegen. Naiv vielleicht, aber ambitioniert.
Eine Aufsteigerin war Janet Jackson nie
Jackson trägt dazu jetzt nicht mehr nur die Polizeistaat-Uniformen von 1989, sondern auch strahlendes Weiß. Aber es bleibt eine Oldie-Show. Auch, weil das Konzept „Rhythm Nation 1814“ die Zeit nicht überdauert hat. Man kann nachlesen, wofür „1814“ steht, es ist in Vergessenheit geraten.
Das müsste es nicht sein. Bei ihrer jüngsten Memory-Lane-Tournee hat ihre Kollegin Madonna es verstanden, Geschichte mit Moderne zu verbinden und dazu noch für jede(n) im Saal wie ein Vorbild zu wirken: Wie man überlebt, wenn alle um einen herum sterben, und wie man das Leben in die Hand nehmen kann.
Eine Aufsteigerin war Janet Jackson nie. Sie ist etwas Anderes. Sie ist die letzte ihrer Art. Und irgendwann wird man sagen, sie war die letzte ihrer Art.