Ezra Collective: Fünf Freunde und die Zukunft des Jazz
Mit „Dance, No One's Watching“ liefern Ezra Collective den mitreißende Nachfolger zu ihrem Mercury-Prize-Album „Where I'm Meant To Be“.
„Ich glaube, wir dass wir uns allmählich dem Punkt nähern, an dem der UK-Jazz wirklich Großes leisten kann, und an dem wir ihn nicht mehr losgelöst vom großen Ganzen betrachten. So nach dem Motto: In der britischen Jazz-Szene geht was“, sinniert Femi Koleoso vom Ezra Collective.
„Dann heißt es: Was Nubya Garcia da gemacht hat, war irre. Wie bei Yussef Dayes, als er den Ivor Novello Award fürs beste Album gewonnen hat, da hatte ich nicht das Gefühl, dass es nur um Jazz ging. Da wurde einfach ein großer Musiker ausgezeichnet.“
Das klingt nach rosigen Zukunftsaussichten. Und tatsächlich hat der 29-jährige Londoner allen Grund optimistisch zu sein. Dafür reicht ein Blick zurück auf jenen Tag im September letzten Jahres, an dem Koleoso und seine Bandkollegen – sein Bruder, Bassist TJ Koleoso, Keyboarder Joe Armon-Jones, Trompeter Ife Ogunjobi und Saxofonist James Mollison – Geschichte schrieben, indem sie als erste Jazzband den Mercury Prize gewannen.
Mehr als nur eine „Alibi-Jazzband“
Bis dahin war Verhältnis, dass Jazz-Bands wie das Ezra Collective zum Mercury Prize pflegten, nicht immer ungetrübt. Die Vertreter des Genres waren in den Jahren zuvor zwar zunehmend bei den Nominierungen berücksichtigt in der laxen Berichterstattung allerdings häufig als „Alibi-Jazzband“ abgestempelt worden, und hatten regelmäßig knapp den Sieg verfehlt.
Kein Wunder also, dass die Band aus allen Wolken fiel, als bekannt wurde, dass sie mit ihrem 2022 erschienenen Album „Where I’m Meant to Be“ den prestigeträchtigsten Preis der britischen Musikszene gewonnen hatte.
„Wir konnten es alle nicht fassen, weil wir uns völlig sicher waren, dass zu diesem Zeitpunkt längst jemand anders die frohe Botschaft erhalten hatte“, erinnert sich Koleoso.
„Das war wirklich ein erhebender Moment, und es schien richtig, ihn mit all denen zu teilen, ohne die wir nie so weit gekommen wären. Seien es die Jugendclubs oder auch die angeblichen ‚Alibi-Jazz-Nominierten‘ der Vorjahre, denen der Preis verwehrt geblieben ist.“
„Das Ezra Collective ist auch deshalb etwas Besonders“, sagte Koleoso bei seiner Ansprache anlässlich der Preisverleihung, „weil wir uns in einem Jugendclub kennengelernt haben. Das, was wir hier heute feiern, verdanken wir einigen großartigen und außerordentlich engagierten Menschen, die sich dafür einsetzen, dass junge Menschen Musik machen können.“
Ausverkaufte Shows
Die Unterstützung, von der er damals sprach, erhielten die fünf Freunde im Rahmen des Camdener Jazz-Förderprogramms Tomorrow’s Warriors, das seit seiner Gründung im Jahr 1991 durch die Musikmanagerin und Produzentin Janine Irons sowie den Kontrabassisten Gary Crosby dank engagierter Nachwuchspflege eine ganze Generation britischer Musiktalente hervorgebracht hat.
Mit einem Förderungsschwerpunkt auf Vielfalt, Inklusion und Gleichberechtigung hat die gemeinnützige Organisation maßgeblich zur Stärkung der Londoner Jazzszene beigetragen – und hat dem Ezra Collective geholfen, ein Level zu erreichen, das ihnen ausverkaufte Shows in so renommierten Hallen wie der Royal Albert Hall oder dem Hammersmith Apollo und – Ende dieses Jahres – einen spektakulären Auftritt in der Wembley Arena ermöglicht.
Ezra Collective kennen keine Genre-Grenzen
Die Strahlkraft der Band liegt auch darin begründet, dass es ihr wie kaum jemandem sonst gelingt, die Genre-Stereotypen zu durchbrechen. Anders ausgedrückt: Galt Jazz lange als Sound, der dunklen, verrauchten Kellerclubs vorbehalten ist, dann ist es nicht zuletzt dem Ezra Collective zu verdanken, dass inzwischen ein sehr viel breiteres Publikum erreicht.
Dieses quecksilbrige Oszillieren zwischen den Polen, führte sie auf die Bühnen von alteingesessenen Traditionsclubs wie dem Ronnie Scott’s, aber ihre Shows sind auch große, mitreißende Partys, auf denen wild getanzt wird, und zu denen sich jeder eingeladen fühlen darf. Das liegt nicht zuletzt an ihrem Sound: einem funkensprühenden Konglomerat, in dem sich Jazz mit Funk, Reggae, Rap und Afrobeat mischt.
„Sie alle sind auf ihre ganz eigene Art und Weise großartige Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker“
„Wir sind die erste Jazzband, die ihn gewonnen hat, aber ich glaube nicht, dass wir die erste Jazzband sind, die ihn verdient hat“, kommentiert Koleoso den Gewinn des Mercury Prize. „Man denke nur an Courtney Pine, Sons of Kemet und Nubya Garcia.“
„Sie alle sind auf ihre ganz eigene Art und Weise großartige Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker. Aber, ja, es ist definitiv ein großes Ding. Ich glaube, dass wir der ganzen Sache einen kräftigen Schub gegeben haben.“
Überlegungen wie diese äußert Koleoso im Laufe des Gesprächs nicht nur einmal. Er ist nachvollziehbarerweise stolz auf das, was das Ezra Collective bereits erreicht hat, strebt aber unaufhörlich danach, sich weiter zu entwickeln, die Genregrößen zu würdigen, die ihm den Weg bereitet haben, und das Vertrauen zurückzuzahlen, das als junger Mann in ihn gesetzt wurde.
„Gerade dann, wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, darf man das Ziel, den nächsten Femi Koleoso zu finden, nicht aus den Augen verlieren. Denn darum geht es. Das könnte ein 13-Jähriger sein, der gerade in Edmonton in der Schule sitzt, und wir müssen dafür sorgetragen, dass er seinen eigenen Mercury Prize bekommt“, sagt er.
Und Koleoso lässt sich an seinen Worten messen, sei es, indem er dreißig Kinder zum Glastonbury Festival einlädt, um dort gemeinsam mit ihm und der Band aufzutreten, oder indem er spontane und offene Musiksessions für die angehenden Jazzstars von morgen veranstaltet, denen er mit Rat und Tat zur Seite steht.
„Ich finde, dass es in meiner Verantwortung liegt, mich zu engagieren“, sagt er. „Es ist fatal, wenn die Regierung den Jugendclubs die Gelder kürzt. Aber niemand würde merken, dass die Regierung die Jugendclubs nicht mehr finanziert, wenn alle Musiker, die von ihnen profitiert haben, sich zusammentäten, um junge Menschen zu unterstützen.“
„Das ist so dope“
„Manchmal muss ich zusammenraufen. Dann sag ich zu mir: ›Fems, was soll denn das? Du hast die ganze Woche zu Hause rumgehangen und Playstation gezockt. Zumindest eine Session wäre doch sicher dringewesen, oder? Wenn ›ja‹, dann setz dich jetzt gefälligst ins Auto, fahr zu irgendeiner Schule, park den Wagen und schenk den Kids dort eine Stunde deiner Zeit.“
Laut TJ liegt das in der Familie: „Ich gebe seit kurzem wieder Bass-Unterricht, und es ist großartig, daran erinnert zu werden, wie das gewesen ist, als man selbst elf oder zwölf Jahre alt war. Wenn so ein kleiner Schüler unseren Song ›Victory Dance‹ lernen will, dann kann einen das wirklich erden.
In so einem Moment, wenn sich der Kreis schließt, bin ich unendlich dankbar, dass wir tun dürfen, was wir tun, und dass ich die Möglichkeit habe, unseren jüngeren Ichs etwas zurückgeben. Das ist so dope.“
„Dance, No One’s Watching“ ist eine Hymne an das gemeinschaftliche Erlebnis des Tanzens
Der Wunsch nach Weiterentwicklung zieht sich auch durch ihr superbes neues Album „Dance, No One’s Watching“. Wie der Titel schon andeutet, liefert es den idealen Soundtrack für das erwähnte Konzert im Wembley-Stadion, und es wartet mit einer ganzen Reihe von Features auf.
Neben dem aufstrebenden Soul-Star Olivia Dean ist unter den Gästen auch der Moderator und ehemalige FC-Arsenal-Stürmer Ian Wright – womit für die Koleoso-Brüder, die beide leidenschaftliche Arsenal-Fans sind, sicher ein Traum in Erfüllung ging.
„Dieses Album ist die dringend notwendige Erinnerung daran, dass es sehr viel mehr Spaß macht, sein eigenes Ding durchzuziehen, und es ist fast so etwas wie ein Fanal gegen die Verunsicherung. Ganz besonders in der heutigen Zeit, in der ständig alles mit jedem verglichen wird“, erklärt TJ.
„Es geht immerzu darum, die Leute zu verunsichern und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie doch eigentlich besser dastehen müssten. Und genau darum geht es in unseren Shows nicht. An einer Stelle, bevor wir in einen Salsa-Teil wechseln, wendet sich Femi ans Publikum und sagt, dass eh niemand weiß, wie man Salsa tanzt, also lasst uns einfach zusammen versuchen und dabei so viel Spaß wie möglich haben. Es macht einfach so viel Freude, wenn jeder sein Ding macht. Genau das zeichnet dieses Album meiner Meinung nach aus: Es ist ein glasklares Statement, aber auch ein Reminder.“
Interessanterweise war „Dance, No One’s Watching“ bereits in trockenen Tüchern, als die Band den Preis gewann. „Es war schon vor dem Mercury Prize fertig – in unserem Schaffenswahn konnten wir gar nicht mehr aufhören“, erinnert sich Koleoso.
„Ich bin in Enfield großgeworden und unter meinen Freunden waren diese Rapper, die in Edmonton ins Studio gingen, und am nächsten Tag in der Schule erzählten: ‚Mann, ich hatte einen irren Lauf und habe dreißig Songs aufgenommen!‘ Ich dachte nur: ‚Wie um alles in der Welt hast du so viel Musik produziert?‘ Und gerade habe das Gefühl, das wir gar nicht so unähnlich sind und, wenn uns nicht der übliche Businesskram dazwischen käme, hätten wir schon das siebte Album draußen.“
Ein Arbeitsethos, der laut TJ noch dadurch befeuert wird, dass sein Bruder – was Femi gerne bestätigt – als Antreiber und Taktgeber der Band fungiert: „Es ist gut, dass er den Mund aufmacht, denn wir neigen alle dazu, die Dinge entspannt anzugehen, aber er war noch nie so drauf. Im Leben fällt jeder auf eine Seite des Kontinuums, und Femi ist zufällig auf der entgegengesetzten Seite gelandet. Dass er sich so gut mit Damon versteht, liegt vermutlich daran, dass er in ihm jemanden gefunden hat, dem es genauso geht.“
Inspiration und Freund Damon Albarn
Besagter Damon ist niemand Geringeres, als ein gewisser Damon Albarn. Koleoso begnügt sich nicht mit seiner Rolle, als Bandleader eines mit dem Mercury Prize ausgezeichneten Jazzkollektivs: Seit 2020 ist er außerdem Live-Drummer der Gorillaz, bei denen er am Schlagzeug sitzt, wann immer Damons Cartoon-Affen auf Tour gehen.
„Ich schätze, damit ging es los“, sagt er, und zeigt mir ein Foto von der Cracker Island Tour, das die beiden zusammen in Mexiko zeigt.
„Uns verbindet eine besonders tiefe Freundschaft und wir sind schon einige Jahre zusammen unterwegs, aber besonders diese Tour werde ich nie vergessen. Er hatte die Platte kaum fertig, da lagen schon Stift und Papier für das Blur-Album parat. Ich konnte das kaum glauben. Eben standen wir noch auf der Bühne einer Arena wo wir zum Abschluss der US-Tour aus vollem Hals ‚Clint Eastwood‘ grölten, und schon war er weg, um ‚The Narcissist‘ zu schreiben. Er hat jeden freien Tag im Studio verbracht, und wenn er nicht im Studio war, dann besuchte er ein Synthesizer-Museum. Er suchte ständig nach Inspiration, hatte immer Zeit für die Musik.“
„Und mich inspiriert er jedes Mal wieder von neuem, besonders jetzt, in dieser Phase meines Lebens. Wenn es so was wie Orientierungspunkte in meinem persönlichen Werdegang gibt, dann sind das sicher die Gigs junger, lokaler Drummer wie Moses Boyd und Paul Stanley McKenzi, die ich in meiner Teenagerzeit besucht habe. Aber jetzt und hier, das ist die Damon-Phase. Gorillaz. Blur. The Good, the Bad & the Queen. Seine Soloalben.“
„Ich schätze diese Projekte einfach so sehr, und ich kann gar nicht anders, als mich von seinem Mangel an Allüren inspirieren zu lassen. Er schreibt etwas, veröffentlicht es und macht dann etwas anderem weiter. Wenn ich ein Album wie Demon Days geschrieben hätte, würde sich sieben Mal hintereinander versuchen diese Leistung zu wiederholen!“
Seine Antwort auf die Frage, ob er Damon denn unveröffentlichte Songs des Ezra Collective vorspielen würde, fällt allerdings eindeutig aus: „Auf keinen Fall! Wenn sie ihm nicht gefallen würde, dann wäre das viel zu … na ja, du weißt schon. Mein Resonanzboden beschränkt sich auf die Band, und wenn TJ etwas nicht mag, dann ist das was völlig anderes. Ich weiß ich übrigens immer noch nicht, wie gut Damon eigentlich Ezra findet, aber ich weiß, dass er auf das, was ich geschafft habe, sehr stolz ist.“
Welchen Einfluss von Albarns Arbeitsethos auf ihn hat, zeigte sich für Koleoso besonders deutlich, als er seine Band überredete, sich dem Notting Hill Carnival von ihrem Kater zu berappeln, um direkt im Anschluß ins Studio zu gehen und ihre aktuelle Platte aufzunehmen.
„Ich weiß noch, wie ich der Band sagte, dass ich ‚Dance, No One’s Watching‘ nach dem Karneval aufnehmen will, und die anderen mich für verrückt erklärt haben“, erinnert er sich. „Wir waren gerade erst für den Mercury Prize nominiert worden, also sagten sie: Wozu die Eile? Ich habe damit argumentiert, dass die Zukunft niemals gesetzt ist, und dass wir nicht wissen könnten, was uns 2024 erwartet. Es stand vier zu eins und es war hart, aber aus heutiger Warte kann sich keiner von uns vorstellen, wo wir wären, wenn wir das nicht geschafft hätten.“
Obwohl Koleoso hin und wieder den Einpeitscher gibt, kommt es zwischen den Brüdern – zumindest laut den anderen – kaum zu Reibereien. Das Beispiel Oasis zeigt, dass das in einer Band nicht selbstverständlich ist.
„Wir kriegen uns nicht oft in die Haare, weil meine Eltern das bei uns Zuhause nicht geduldet hätten!“, sagt TJ. „Wir wissen, wie man Meinungsverschiedenheiten bewältigt. Unter Brüdern gibt es immer Tage, an denen man sich nicht versteht, aber wir können das aushalten. Denn am Ende steht immer die Einsicht, dass wir auch morgen noch Brüder sind!“
Jetzt, wo das Album fertig ist, sind alle Augen auf Wembley gerichtet. „Wir spüren keinen Druck“, meint Ife Ogunjobi und seine Bandkollegen nicken zustimmendend.
„Wir kosten solche Momente einfach aus. Es ist ein Privileg vor so vielen Leuten in unserer Heimatstadt zu spielen. Als Band sind wir im Laufe der Jahre organisch gewachsen und das Konzert wird ein echtes Heimspiel, es gibt also keinen Grund nervös zu werden. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass man diese anderthalb bis zwei Stunden so nie wieder erleben wird. In der Royal Albert Hall hatten wir einen ganz ähnlichen Moment. Bei Joes Saxophon-Solo sahen uns an und alle dachten: Das ist ja so cool. Die Crux liegt darin, solche Augenblicke nicht als selbstverständlich zu betrachten und sich an ihnen festzuhalten, wenn es mal anders läuft.“
„Seit den Anfängen der Band, war die Interaktion zwischen uns das Nonplusultra«, ergänzt Mollison. „Wo wir spielen, ist nicht relevant, solange wir auf der gleichen Frequenz sind.“
„Das Herzstück sind allein wir fünf“, sagt TJ. „Wir haben schon oft gesagt, dass die Party auf der Bühne beginnt, und es unser Job, alle zur Party einzuladen.“
In Wembley werden 12.500 Fans der Einladung folgen, um den Albumtitel beim Wort zu nehmen und gemeinsam zu tanzen.