Michael Stipe über „Monster“: „Jetzt können wir auch die Warzen zeigen!“
Michael Stipe und Mike Mills blickten 2019 auf das missverstande „Monster“-Album zurück, das nun 30 geworden ist
„Monster“ wird 30 Jahre alt. Mike Mills und Michael Stipe über das wildeste R.E.M.-Album von allen – und die Verwaltung des großen Erbes dieser Band
Die Ironie bleibt auch Michael Stipe nicht verborgen. Seine Band R.E.M. hat sich 2011 aufgelöst, aber seitdem redet der Sänger nicht weniger über sie als davor. Ungefähr alle zwei Jahre bringen die Alternative-Rock-Superstars ein altes Album in neuer Verpackung mit ordentlich Bonusmaterial heraus, und dann sitzen Stipe und Bassist Mike Mills wieder zusammen und sprechen über die alten Zeiten. Über die neuen allerdings auch, denn da passiert gerade einiges: Während „Monster “, das wildeste Album der Band, sein 25-jähriges Jubiläum feiert (dieses Interview fand im Herbst 2019 statt), hat Stipe gerade seine erste Solo-Single veröffentlicht und spendet die Einnahmen an die Umweltaktivisten von Extinction Rebellion. Ein Gespräch über Stolz und Warzen, alte Spannungen und neue Freiheiten – und die ewige Frage nach einer Reunion.
Nach „Out Of Time“ und „Automatic For The People“ sitzen wir nun hier, um über das Album „Monster“ zu sprechen, das gerade neu aufgelegt wurde. So richtig hat das mit der Frührente nicht geklappt, oder?
Mike Mills: Ich formuliere es so: Ich bin semi-verrentet, aber beschäftigter als damals, als ich noch berufstätig war!
Michael Stipe: Das Gute jetzt ist: Wir müssen nichts machen, aber wir wollen. Wir sind stolz auf das, was wir gemacht haben. Und für mich ist es spannend, mir vorzustellen, dass meine Patentöchter, wenn sie nicht meine Patentöchter wären, auch etwas von diesen Platten erfahren und sie anhören und vielleicht aufregend finden könnten.
Neben einem neuen Remix von Produzent Scott Litt und einem Konzert gibt es auch mehr als ein Dutzend Demos zu hören. Fällt es euch leicht, so etwas Unfertiges zu veröffentlichen?
Mills: Man muss auch mal loslassen können nach 25 Jahren.
Stipe: Wir schauen ja zurück, wir ziehen Sachen aus dem Archiv. Ich hätte früher niemals diese Demo-Tapes präsentiert – mit meinen zum Teil entsetzlichen Hirngespinsten. Die Leute mögen das aber. Soll es da nutzlos rumliegen, bis ich tot bin?
Jetzt, durch den zeitlichen Abstand, nimmt es dem Album nichts von seiner Kraft oder Schönheit. Jetzt können wir auch die Warzen zeigen.
„Wenn ich das Master-Tape dieses einen Songs finde, begrabe ich es.“
Tut das manchmal trotzdem noch weh?
Beide (lachend): Ja!
„Wenn ich das Master-Tape finde, begrabe ich es. It’s me at my worst“
Stipe: Mir fällt gerade ein, dass ich gestern im Studio war und dort Gesang aufgenommen habe, der einfach nicht funktioniert hat. Also sagte ich: Bitte sofort löschen! Es soll nicht existieren! Sonst kommt es doch irgendwann noch raus. In all den 31 Jahren R.E.M. fällt mir nur ein einziger Song ein, der niemals veröffentlicht werden wird. Wenn ich das Master-Tape finde, begrabe ich es. It’s me at my worst. Da singe ich außerhalb meiner Fähigkeiten, es war ein Experiment, und es ging kolossal schief.
„Monster“ war ja auch eine Art Experiment, jedenfalls ein mutiges Album: nach dem ruhigen „Automatic“ plötzlich krachende Rocksongs …
Stipe: Wir hatten gerade 20 Millionen Alben verkauft, wir waren on top of the world. Wir wussten, dass es ein Schritt zur Seite war, ein radikaler Neuansatz, aber wir waren zuversichtlich, dass wir das schon hinkriegen und die echten Fans uns folgen werden.
Das grell orangefarbene Cover passte damals zu „Monster“. Die Neuauflage ist blau. Das bedeutet doch sicher auch etwas?
Stipe: Ich hatte das Orange schon satt, nachdem ich ungefähr zwei Monate draufgeguckt hatte! Als wir damals in Atlanta mit den Proben für das Album anfingen, gab es dort im Studio eine orangefarbene 60er-Jahre-Couch, von der ich besessen war, so kam die Farbe zustande. Die Couch habe ich dann übrigens für 50 Dollar gekauft, weiß aber nicht, wo die jetzt ist. Jedenfalls bin ich begeistert, dass ich nach einem Vierteljahrhundert jetzt die Farbe ändern konnte! Es ist auch nicht irgendein Blau, sondern das Blau eines Fernsehschirms in dem Moment zwischen den Bildern. Es repräsentiert das Rauschen, den Lärm der Zwischenräume. Und es ist eine Referenz an Yves Klein, einen meiner Lieblingskünstler. Für mich ist es eine große Erleichterung, jetzt dieses Blau anzuschauen.
Vermisst ihr zumindest die Konzerte manchmal, seit es R.E.M. nicht mehr gibt?
Mills: Nicht wirklich.
Stipe: Ich schon.
Mills: Natürlich, auf eine Art. Aber es richtig zu vermissen würde für mich bedeuten, dass ich die Entscheidung, dass wir uns getrennt haben, bereue, aber ich bereue es überhaupt nicht. Ich denke sehr gern an vieles zurück, aber möchte ich nächste Woche wieder damit anfangen? Nicht unbedingt. Neulich sah ich Freunde von mir spielen, und ich dachte: Mensch, das könnte ich doch auch machen, sieht nach Spaß aus! Und dann: Und sie machen das morgen wieder, und übermorgen, und nächste Woche, und nächsten Monat, und übernächsten. Weißt du was, zieht ihr mal los und ich bleibe hier!
Stipe: Unserer Freundschaft hat die Band-Auflösung sicher gutgetan, weil die Spannung wegfällt, die durch die geschäftliche Seite manchmal entsteht. Wir haben keine Deadlines, keinen Druck. Uns war damals einfach klar, dass wir etwas Wunderbares geschaffen hatten. Ich wollte das nicht gefährden. Ich wollte nicht 70 sein und jeden Sommer mit einer Greatest-Hits-Platte durch Europa touren. Das schien mir nicht die richtige Art, unser Werk zu ehren. Besser, es einzukapseln und für sich stehen zu lassen, statt jedes Jahr ein neues Album rauszubringen, das alle ignorieren und das nicht im Radio gespielt wird.
Und wie geht es weiter? Michael, du hast im Oktober deine erste Solo-Single, „Your Capricious Soul“, veröffentlicht. Folgt bald ein Album?
Stipe: Ich arbeite auch an anderen Songs. Es ist aufregend. Ich liebe meine Singstimme; meine Sprechstimme nicht so, aber die Singstimme. Material zu finden, das dazu passt, macht mich sehr glücklich. Einiges habe ich mit Andy LeMaster geschrieben, einem genialen Musiker, Singer-Songwriter und Produzenten aus Athens/Georgia. Wir sind schon einige Male gemeinsam als The Watchcaps aufgetreten – eine Band, zu der auch Jesse Smith, die Tochter von Patti, gehört. The Watchcaps haben einige der schwierigsten Coversongs aller Zeiten gespielt, und kürzlich auch einige meiner neuen Songs.
Also nächstes Jahr das Album?
Stipe: Ich würde nicht darauf warten. Ich würde mir Zeit erlauben. Ich komponiere zum ersten Mal in meinem Leben Musik – das ist schwerer, als ich dachte. Danke, Mike, dass ihr es all die Jahre so leicht habt aussehen lassen! Aber es macht mir Spaß, auch wenn es nicht meine Stärke ist. Ich puzzle gern im Studio rum und probiere alles Mögliche aus, meine ganz eigene Kunst. Ich weiß, dass ich mich niemals mit R.E.M. messen kann, das versuche ich nicht mal.
„Mich interessiert der Geschäftskram nicht so“
Die Single wurde nur auf deiner Website veröffentlicht, zugunsten von Extinction Rebellion. Warum diese Form der Veröffentlichung – auch um Spotify und all den Billiganbietern eins auszuwischen?
Stipe: Mich interessiert der Geschäftskram nicht so. Mir war es allerdings wichtig, meine Single so zu veröffentlichen, dass klar wird, wie sehr der Vertrieb von diesen dominanten Kräften eingeschränkt wird. Wie sie praktisch alles im Griff haben. Da wollte ich komplett raus, ganz unabhängig sein für diese eine Veröffentlichung. Ich bin kein Idiot, ich werde den Song irgendwann auf diese Plattformen stellen und hoffe, sie heißen mich dann willkommen, aber erst mal wollte ich ein Statement abgeben: So läuft es gerade, das macht die Digitalisierung mit der Musik.
„Es passiert in Sachen Umweltschutz einfach zu wenig, alle sind wie paralysiert“
Wie kamst du zu Extinction Rebellion?
Stipe: Ich arbeite in New York mit der Organisation Rise and Resist zusammen, die sich nach der Wahl unseres 45. Präsidenten formiert hat, über die kam ich zu XR. Ich hatte natürlich auch schon verfolgt, was Greta Thunberg macht … Zuletzt war ich bei XR in Rom, in London, in Stockholm, New York sowieso. Es passiert in Sachen Umweltschutz einfach zu wenig, alle sind wie paralysiert. Also muss man vehement Aufmerksamkeit erregen, die Leute auf seine Seite ziehen, aber mir ist die Gewaltlosigkeit sehr wichtig. Es ist eine heikle Balance, aber die machen das großartig. Sie haben ja auch einiges von Occupy gelernt, vom Arabischen Frühling. Wie man erfolgreich handelt, aber dann die Fallstricke meidet. Ich verstehe überhaupt nicht, wie irgendwer etwas gegen die haben kann. Die tun etwas. Das Richtige. Und sie laden alle ein, sie schließen niemanden aus. Was ja nur logisch ist: Wir brauchen alle Wasser, wir brauchen alle Luft, wir brauchen alle diese Erde.
„Das Leben ist eine Sisyphosarbeit.“
Ihr habt 1988 schon ein Album „Green“ genannt, und nach all den Jahren reden wir immer noch über dieselben Probleme … Deprimiert euch das auch manchmal?
Mills: Das Leben ist eine Sisyphusarbeit. Man schiebt den Fels hoch, er kommt zurück, man macht weiter. Man darf nicht aufhören zu schieben.
Stipe: Das gehört zur Demokratie dazu, oder? Und das Leben ist kurz. Ich habe keine Zeit für Zynismus.
Mills: Ich bin sehr zynisch, aber das hält mich nicht davon ab, aktiv zu sein. Zynisch zu sein heißt nicht aufzugeben!
Wäre XR nicht eine Bewegung, für die R.E.M. dann doch mal über einen einmaligen Benefiz-Reunion-Gig nachdenken könnten?
Stipe: Ich muss sagen, dass mir XR und was wir da machen so wichtig ist, dass das für mich ein guter Grund wäre, eigentlich der einzige … Aber halt bitte nicht die Luft an! Es wird nicht passieren. Dies ist unser Reunion-Gig: in europäischen Hotelzimmern über frühere Alben reden!
Wo bleibt eigentlich das Mike-Mills-Soloalbum?
Mills: Ich weiß, dass ich das versprochen habe …
Stipe: Du musst es schon wegen des Titels machen: „The Mike Mills Experience featuring Mike Mills“. Das muss passieren!
Mills: Vielleicht nächstes Jahr. Mal sehen.
Stipe: No time like now! Ich kann Background-Vocals beisteuern.
(Aus: ROLLING STONE 12/2019)