Parole Brandi: Von Stalkern und Schutzdrachen im Land der Schalmeien

Die Sommerpause ist vorbei. Unsere Kolumnistin referiert einen merkwürdigen Urlaubsbericht.

Ich will euch von meiner Freundin erzählen. Ihr Name tut nichts zur Sache, aber es ist einfach zu merkwürdig, was mit ihr passiert ist. Diesen Sommer ist sie zum Schreiben weggefahren. Das erste Mal überhaupt wollte sie endlich in die Bretagne fahren. Von dieser sagenumwobenen Gegend hatte sie schon so viel gehört, dort hatte Jane Birkin ihr Haus gehabt, lebten Asterix und Obelix und dort kommt famously die Schafseuterschalmei her.

Also packte sie ihren Koffer und fuhr mit mehreren Zügen aus Deutschland zum Schreiben in ein kleines Hafenstädtchen im sogenannten „Finistère“.

Stillleben als Vermächtnis

Ihr Airbnb war das angegliederte Apartment an das verlassene Atelier eines kürzlich verstorbenen Malers, irgendeines Jacques, dessen Arbeitsstätte neben ihrem kleinen Apartment noch genauso unberührt im Tageslicht der Dachfenster lag, wie er es offenbar für immer verlassen hatte. Hinein durfte sie zwar nicht, aber durch zwei dünne Fenster sah sie jeden Tag hinunter auf Jacques aufgestellte Bilder, seinen Tresen mit der Kaffeemaschine, seine Strickjacke über dem Stuhl, die halb gerauchten Zigaretten im Aschenbecher und auf sein Motorrad, seine alte „Triumph“, die neben dem Eingangstor in der Ecke unter einem Tuch stand.

Die Tage waren schön, das Wetter perfekt. Konstant herrschten Temperaturen von 24 Grad, ein leichter Wind ging und meine Freundin verbrachte die Tage damit, morgens bei Sonnenaufgang im Meer zu baden, sich dann in der Boulangerie ein Croissant zu kaufen um danach zwei, drei Stunden lang zu schreiben, Mittag zu essen und den Nachmittag entweder zu wandern, am Strand zu liegen oder weiter zu arbeiten.

Allein wanderte sie tagein, tagaus durch den kleinen Ort. Ging am Hafen die Promenade entlang, besuchte die wenigen, weißen Strände, die aussahen, als hätte das felsige Ufer sich extra für die Touristen erbarmt und dem Meer den nötigen Platz gemacht, damit es die Muscheln und Steine zu großen Flächen fein glitzerndem Sand schmelzen ließ. Manchmal aß sie in den Bistros oder kochte sich Nudeln, sie kletterte auf den einzigen Wanderweg, den der Ort hergab und der hinein und hinaus aus der Bucht führte, in der sich ihr Apartment befand.

Sommerliches Ferngespräch 

Nach gut zwei Wochen dort telefonierte sie eines Abends mit einem ihrer engsten Freunde. Da sie herausgefunden hatten, dass das Telefonnetzwerk ihr Gespräch immer wieder mit nervtötenden Löchern unterbrach, wechselten sie auf das Telefonieren via Internet, was am besten auf dem Marktplatz funktioniere, da dort ein öffentliches WLAN zur freien Verfügung stand.

Also setzte sie sich mit einer Flasche Rotwein auf die Treppe vor das kleine Rathaus direkt am Hafen und berichtete ihrem Freund von ihren Bekanntschaften. Etwa von dem Theatermusiker, den sie erst vor zwei Tagen im Waschsalon kennengelernt hatte und der sie abends auf sein Boot eingeladen hätte zu einem „Apero“. Dann konnte sie noch erzählen, dass sie wenige Tage zuvor eine Frau morgens in einem der Cafés kennengelernt hatte, bei der sich doch nach wenigen Minuten glatt herausstellte, dass sie eine ehemalige Opernsängerin war, was meine Freundin über die Maßen faszinierte.

Bei diesem lauschigen Telefonat befanden meine beiden Freunde die Welt nach diesen netten Begegnungen in völliger Fremde vorsichtig für einen nicht nur schlechten Ort.

Bald darauf wurde es kalt und sie sagten sich Auf Wiedersehen.

„Stay safe“, sagte mein Freund noch zu meiner Freundin.

Der Fremde

Sie stand auf und versuchte nicht auf den Mann zu achten, der sie seit einigen Minuten schon beobachtet hatte. Als er ihr quer über den Marktplatz hinweg folgte, beschleunigte sie ihre Schritte und tat so, als sähe sie ihn nicht. An den belebten Bars und Bistros ging sie so rasch sie konnte vorbei, aber irgendwie spürte sie, dass er ihr folgte.

Bei einer Kreuzung führte ihr Weg nach oben tiefer ins Örtchen hinein und weg von den belebten Straßen. Sie ging die ruhige Dorfstraße hinauf, da kam ihr der Mann aus einer Seitenstraße hinterhergejoggt. Da aber ihr Apartment nicht mehr weit war, dachte sie, es sei das Beste, einfach hinein zu gehen, er würde sich schon abschütteln lassen.

Doch in der Straße, in der sie wohnte, gab es keine Beleuchtung mehr. Es war einfach ein schwarzes Loch, in das sie jetzt mit klopfendem Herzen hinein musste und dann nochmal in eine abknickende Einfahrt, wo sich das schwere Holztor zu ihrem Ateliergebäude befand.

Sie bog in die dunkle Straße und kurz darauf in die ebenso dunkle Einfahrt. Als sie bei ihrem Tor angekommen war, kam ein weißes Licht von Richtung Straße auf sie zu. Der Mann leuchtete ihr mit seiner Handylampe ins Gesicht und kam näher und näher.

Meine Freundin versuchte mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss des Tors zu bekommen, aber sie stellte fest, dass das nicht mehr ging, denn sie war längst eingefroren.

Besuch des alten Drachens

Am nächsten Morgen steckte Olivier, der Maler von gegenüber, seinen Kopf aus dem Fenster, als er meine Freundin aus dem Holztor kommen sah.

„Alles in Ordnung?“ rief er nach unten. Sie brach sofort in Tränen aus. Er lief die Treppen hinunter,  nahm ihre Hand und sah sie aus wachen Augen an.

„Do you need help?“

Meine Freundin erzählte dem Maler von ihrem schrecklichen Erlebnis mit dem Fremden.

Noch während Olivier ihr betroffen zuhörte und fassungslos den Kopf schüttelte, zeigte sie plötzlich mit einem zitternden Finger Richtung Himmel.

Dort, weit oben, flog ein grüner Drache durch die Lüfte und seine rotglänzende Schwanzquaste blitzte im Sonnenlicht.

„Was ist das denn“ fragte meine Freundin.

Olivier hob erfreut sie Brauen.

„Oh, endlich, ein neuer Schutzdrache“, sagte er. „Seit ein paar Tagen schon war keiner mehr da, der Alte ist mittlerweile irgendwo in der Gegend über Brest.“

Meine Freundin fragte, was das genau sei, ein „Schutzdrache“ und der Maler erklärte ihr, dass diese Gegend nicht ohne Zauberei auskäme, das wüsste man seid den Druiden und dass, sobald ein bretonischer Schutzdrache seinen Aufenthaltsort wechselte, auf der Erde unschöne Dinge geschehen würden, bis ein anderer Drache käme und den Platz seines Vorgängern einnähme und somit den Ort wieder unter seinen Schutz stellte.

Das Verschwinden

Mit großen Augen hörte meine Freundin Olivier dem Maler zu und als er ihr einen Kaffee anbot, zögerte sie einen Moment und sagte dann: „Nein danke, ich würde lieber eine Runde auf dem Drachen da drehen, glaube ich…“

Olivier sah sie verblüfft an. Dann stieß er einen lauten Pfiff aus und bald darauf fiel ein dunkler Schatten über sie, als der bretonische Schutzdrache kreisend zum Landeanflug ansetzte.

Meine Freundin bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu, als das große, dunkelgrün geschuppte Tier sachte in der Luft über ihnen die Balance haltend, nach einer Stelle zum Landen suchte. Es entschied sich für das Dach des Ateliers in dem meine Freundin untergebracht war. Der Drache war so groß wie ein Flugzeug und hatte große, silbrige Muschelaugen, die aus seinem dunkelgrünen Gesicht das Licht auf die Straße zurück warfen wie Spiegelscherben.

Olivier soll meiner Freundin noch mit einer Leiter auf das Dach des Ateliers geholfen haben und gesehen haben, wie sie auf den Rücken des bretonischen Schutzdrachens kletterte, aber was danach geschah, daran hat der etwa sechzigjährige Maler keine Erinnerung mehr, ein silbriger Blitz habe ihn geblendet und dann habe er kurzfristig die Besinnung verloren, gab er später dem Dorfpolizisten zu Protokoll.

Seitdem hat niemand mehr etwas von meiner Freundin gehört.

 

 

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