„House of the Dragon“ hat eindeutig die rote Linie überschritten
Wie verzweifelt muss man sein, um zu glauben, dass man mit derart stumpfer Gewalt an „Game of Thrones“ heranreicht?
Achtung, dieser Text enthält fundamentale Spoiler zur ersten Folge der zweiten „House of the Dragon“-Staffel! Also: Weiterlesen auf eigene Gefahr
Unterscheidet sich ein Premierenpublikum von einem Nicht-Premierenpublikum? Selbstverständlich. Premiere ist Party. Man hat Getränke abgegriffen, man hat Popcorn abgegriffen, man sieht den Film als erster, ist gut drauf, es gibt aufgekratzte Moderatoren mit schlechten Witzen, die alle Affirmations-Erwartungen erfüllen. Außerdem sitzen im Saal auch „Medienleute“ der Firma, die den Film produziert hat, und die selbstverständlich jubeln und applaudieren, damit die anderen, die nicht zur Produktionsfirma gehören, davon angesteckt werden und auch jubeln und applaudieren.
Am Ende der „House of the Dragon“-Berlinpremiere, bei der die erste Folge der zweiten Staffel gezeigt wurde, hat niemand, niemand im Saal gejubelt und applaudiert (erst, als das Moderatoren-Duo wieder hineingetanzt kam). Es war still unter den Zuschauern. Eine ziemlich ehrliche Reaktion. Die Leute wirkten geschockt. Warum? In der Schlussszene hat man erleben müssen, wie einem Kind der Kopf abgeschnitten wird. Man sieht es nicht, aber hört es: gurgelnde Geräusche, das Ratschen des stumpfen Messers. Der Junge hatte in seinem Bett geschlafen, er wacht überrascht auf. Ein Mann hält ihm den Mund zu, damit er nicht schreit, und zückt dann die Waffe. Ein anderer Mann packt mit an.
Es gibt Morde an Kindern im Film und im Fernsehen, aber meist offscreen. Inszeniert werden Morde an Kindern – und auch die Tonspur ist eine Inszenierung – aus gutem Grund so gut wie nie. Denn Morde an Kindern markieren eine rote Linie. Lars Von Trier, sowieso schon seit Jahren von allen guten Geistern verlassen, ließ in „The House That Jack Built“ zwei Jungen erschießen, John Carpenter in „Assault on Precinct 13“ ein Mädchen, Michael Haneke in seinem arg lehrbuchartigen Provokationsexperiment „Funny Games“ einen Jungen. Das wirkte, besonders bei Haneke, abstrakt. Wer in „House of the Dragon“ nun diese zwei Schlächter bei der Arbeit sieht, könnte unweigerlich ans echte Jetzt denken, an die Gräueltaten der Bestien aus dem Israel-Hamas-Krieg.
Man muss keine Moralpredigten darüber halten, was dem Kinopublikum zuzumuten ist. Sollen die Regisseure das halt alles drehen. Im Fall von „House of the Dragon“ aber sind solche Ideen besonders peinlich. Es geht dem „HotD“-Machern doch einfach nur um eine Grenzüberschreitung – krassere Dinge zu zeigen als alles, was aus der übermächtigen Mutterserie „Game of Thrones“ bekannt ist. Es ist das Ergebnis von Quotendruck. Sogar die „Herr der Ringe“-Serie auf Amazon, die keinerlei popkulturellen Nachhall erzeugen konnte, hatte bessere Abrufquoten als „House of the Dragon“. Das muss eine Demütigung gewesen sein für den Westeros-Heimatsender HBO.
Welche Delikatesse haben wir noch nicht gezeigt?
Man glaubt fast, den „Dragon“-Autoren beim Brüten zuhören zu können: Welche Delikatesse haben wir noch nicht gezeigt? Man denke nur mal die Fußfetisch-Szene aus der ersten „House of the Dragon“-Staffel. Die war ohne jedweden erzählerischen Nutzen (hat Olivia Cooke danach nochmal die Socken ausgezogen für ihren Berater?).
„House of the Dragon“ hatte von Anfang zu kämpfen bei Kritik und Publikum, zu Recht. Verwirrende Zeitsprünge, damit verbunden Darstellerwechsel, unklare Allianzen und Feindschaften trotz gleicher Haarfarben und Frisuren innerhalb desselben Hauses. Und viel zu wenig Action. Nun – schon in Folge eins der neuen Season – ständig den Fokus auf die Drachen als bereitstehende Kampfmaschinen zu richten, wirkt verzweifelt. Wann geht der Krieg denn endlich los? Es dürfte nicht verwundern, wenn bereits nach vier Staffeln das Ende dieser Geschichte erreicht ist – es bleibt abzuwarten, ob sich „House of the Dragon“ nochmal aufrappeln wird.
Daemon ist nicht mal mehr Antiheld
Aber: Lebt der Junge vielleicht doch noch? Man sieht seinen Tod ja zum Glück nicht. Aber selbst, wenn sich in Episode zwei herausstellt, dass er die Attacke überlebt hat – der schlechte Beigeschmack, dass „House of the Dragon“ allein durch Schockwerte zum Flurgespräch werden will, bleibt.
Auftraggeber des Kindermords ist Daemon (Matt Smith), der dadurch vom Antihelden zum eindimensionalen Schurken geworden ist. Das konnte George R.R. Martin mit „Game of Thrones“ besser: Bis auf den Comicfigur-artigen Ramsay Bolton gibt es darin ausschließlich Antihelden. Jede dieser Figuren hat etwas, das sie sympathisch macht. Selbst Jaime Lennister, der auch einen Jungen töten wollte.
Eines noch. In einer sauber geplotteten Serie (wie in den ersten fünf Seasons von „Game of Thrones“ dargelegt) wäre die Ermordung eines Königskinds so in die Wege geleitet worden: durch eine klug gesponnene und aufwendig durchdachte Intrige. So etwas braucht in der Regel zwei Episoden Vorbereitungszeit – und bietet dann einen umso besseren Payoff.
Aber den „House of the Dragon“-Machern fehlten eindeutig die Ideen und die Bereitschaft, Zeit in ihre Story zu investieren. Deshalb schleichen sich hier zwei unbekannte Gossenstreuner (!) als Kindesmörder in die Königsburg (!!), die über zig Etagen unbewacht ist (!!!), um dann in aller Seelenruhe die Schlafgemächer zu inspizieren (!!!!). Eine schnelle, dreckige, völlig unrealistische Mach-mal-hinne-Lösung, entstanden in einem Writer’s Room, der seine Zuschauer anscheinend für dumm verkaufen will. Und das muss echt jeder merken.