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Gunter Blank geht essenKolumne

Gunter Blank geht essen: Küche der Kindheit

Traditionsrestaurants schließen – und auch viele klassische deutsche Gerichte drohen auszusterben.

Am Ende muss man Altkanzler Kohl vielleicht doch dankbar sein. Immerhin hat er es geschafft, im Alleingang ein deutsches Regionalgericht zu rehabilitieren und weltweit bekannt zu machen. Der Pfälzer Saumagen hat dank Kohl und seinem Deidesheimer „Leibkoch“ Manfred Schwarz das Image einer provinziellen Monstrosität abgelegt und wird verdientermaßen als Delikatesse wahrgenommen. Damit ist er fürs Erste dem Schicksal vieler deutscher Traditionsgerichte entkommen, die mehr und mehr von den Speisekarten verschwinden.

Während Franzosen und Italiener mit Caillette ardéchoise (im Schweinenetz gegartes Wild- und Pilzragout) und Nervetti cotti (gekochte Kalbssehnen) ihre nationalen Besonderheiten wie ihre Augäpfel hüten, sind ihre deutschen Pendants vom Aussterben bedroht. Das hat mehrere Gründe, deren Zusammenspiel dazu führt, dass ein Großteil unseres kulinarischen Erbes – vielleicht unwiederbringlich – verloren geht.

Zunächst ist da das Restaurantsterben, das inzwischen bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Allein 2023 wurden in Deutschland 14.000 Gaststätten und Restaurants geschlossen, für dieses Jahr wird noch einmal dieselbe Zahl prognostiziert; seit Ausbruch der Pandemie 2020 wären wir dann bei etwa 50.000 Betrieben angekommen.

Überproportional betroffen sind die günstigen gutbürgerlichen Gasthäuser. Natürlich gibt es sie noch, die Wirtshäuser, die in Bayern, Westfalen und Norddeutschland Schweinsbraten, Pfefferpotthast und Labskaus anbieten. Aber in der Provinz, abseits der Touristenpfade, sind sie praktisch verschwunden, während Pizzerien und Steakhäuser über Zuspruch nicht klagen können.

Königsberger Klopse
Königsberger Klopse

Deutsche Küche braucht Zeit und Muße

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Verfasser liebt Pizza, Burger und überhaupt praktisch alle Küchen dieser Welt, aber er liebt eben auch die Gerichte seiner Kindheit. Womit wir beim nächsten Punkt wären. Denn fast alle dieser klassischen deutschen Spezialitäten sind nur mit einigem Aufwand auf den Tisch zu bringen, seien es Linsen mit Spätzle, Königsberger Klopse, Gaisburger Marsch, Saure Kutteln, Saure Nierchen, Forelle Müllerinart, gedämpfter Aal, Kalbs- oder Rinderzunge, Dithmarscher Mehlbeutel, Ochsenmaulsalat – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Fast alle diese Gerichte haben ihren Ursprung in der Armeleuteküche und wurden von Generationen von Hausfrauen und Köchen verfeinert. Sie frisch und schmackhaft herzustellen, bedarf es Zeit und Talent, kostenintensive Faktoren, die nicht zwangsläufig über den Preis wieder hereinzuholen sind. Stattdessen dominieren im einfachen Segment allerlei Schweineschnitzel und im gehobenen Lammkarree, Rehrücken und Zander, schmackhaft zwar, aber auf Dauer langweilig, während die alten Gasthäuser von modernistisch auftrumpfenden Steakhäusern verdrängt werden.


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Filet vom Simmentaler Rind, Rumpsteak, Rib Eye, Tomahawk, gern vom Wagyu und Dry Aged angeboten, suggerieren Topqualität, was hohe Preise bei gleichzeitig minimalem Personalaufwand erlaubt, zumal wenn als Beilagen wenig mehr als Pommes, Salat und gegrillte Champignons serviert werden. Eine solche Küche kommt mit einem mäßig begabten Koch und vielleicht noch einer Küchenhilfe aus. Ein Koch hingegen, der perfekt gerollte Flädle (mit Hack gefüllte Pfannkuchen) oder knusprig-zarte Mistkratzerle (mit Kalbsbries gefüllte Küken) zubereitet, benötigt Talent, Vorbereitungszeit und Souschefs – die jenseits einiger weniger, oftmals besternter Edelregiorestaurants nicht mehr zu finanzieren sind.

Zumal auch – und hier sind wir beim dritten Punkt – der deutsche Gast nur mehr wenig mit seinen französischen oder italienischen Pendants gemein hat. Die Leute gehen nicht nur seltener essen, sie scheinen sich auch immer weiter vom Ursprung der Produkte zu entfernen. Ein ganzer Fisch, ein Fettansatz im Braten, von Innereien ganz zu schweigen, scheinen tabu. Weshalb man, will man heutzutage eine Kalbsleber genießen, zum Italiener gehen muss.

Undenkbar indes, dass man in Italien hinnehmen würde, dass die geliebten Nervetti cotti aussterben.

Creativ Studio Heinemann Getty Images/Westend61
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