Harmonia
„Musik von Harmonia“ – Zukunft aus der Provinz
Grönland (VÖ: 20.4.)
Jubiläums-Edition des Debütalbums der Krautrock-Supergroup mit Remix-Versionen
Eine kleine Kommune in Forst in Niedersachsen wurde in den Siebzigern zu einer Art Wallfahrtsziel jener eigentümlichen deutschen Experimentalrock-Anarchie, die mangels alternativer Begriffe heute immer noch Krautrock heißt. Ein Refugium der Stille, in dem Melodien gepflückt wurden, die schwingen wie der Wind über Weidegras oder das unruhige Wasser der vorbeifließenden Weser. Hier nahmen Harmonia, diese Supergroup aus den Cluster-Musikern Dieter Moebius und Hans Joachim Roedelius sowie Neu!-Gitarrist Michael Rother, ihre Soundscapes auf.
Wer die Vorstellung von einem bequemen Rückzugsort hegt, mag die Augen davor verschließen, dass es sich zunächst um ein ziemlich mittelalterliches Anwesen handelte, mit zubetonierten Fenstern und ohne Toilette. Ablenkungen sollten vermieden werden. Für alles andere gab es ein kleines Bordell direkt in der Nähe. Brian Eno kam später, 1976, als er in den Stücken von Harmonia die „Musik der Zukunft“ ausgemacht hatte, dennoch vorbei, jammte etwas mit und spielte im Hof Tischtennis. Eno verhehlte nie, wie sehr er von Rother beeinflusst wurde.
Trotz der Gemeinsamkeiten ist das Harmonia-Debüt ein von Ambient-Strukturen getragenes Cluster-Album
Eigentlich waren Harmonia zufällig zusammengekommen: Michael Rother und Klaus Dinger waren 1971 Mitglieder von Kraftwerk, traten an einem Abend gemeinsam mit Cluster auf. Später, als Rother und Dinger an dem Material für „Neu! ’75“ arbeiteten, aber nicht so recht weiterkamen, suchte Rother Mu siker, um die Tracks auch live zum Leben erwecken zu können. Er erinnerte sich an Cluster und verbrachte ein Osterwochenende bei den Kollegen. Die völlig losgelösten Improvisationen gefielen dem Trio, Proben gab es nicht.
Trotz der Gemeinsamkeiten ist das Harmonia-Debüt ein von Ambient-Strukturen getragenes Cluster-Album, am schönsten zu hören gleich in „Watussi“, dem hypnotischen Einstiegsgroove des Albums. Der Einsatz von Rother, der in Gedanken womöglich doch schon durchspielte, wohin es ihn mit Neu! treiben könnte, ist vornehmlich bei „Dino“ zu hören. Auf dem Nachfolger, „Deluxe“, sollte das Amalgamieren der unterschiedlichen Klangkonzepte zwischen experimenteller Elektronik und mechanischen Rhythmen noch besser aufgehen.
Das Ergebnis ist unterschiedlich prägnant
Entgegen ihrer gerade zu grotesken Unverfügbarkeit für lange Zeit war die Platte zuletzt Teil einer inzwischen vergriffenen Vinyl-Werkschau von 2015 und der „Complete Works“-Kompilation, die 2021 erschien und neben den bekannten Werken auch Raritäten enthielt, deren Existenz man kaum für möglich gehalten hätte. Wohl nur in der Perspektive auf das vollständige Schaffen des unbeständigen Kollektivs erschließt sich, was Iggy Pop einmal bewundernd „pastorale Psychedelik“ genannt hat.
Es ist mehr als nur ein Bonus, dass das 50. Jubiläum von „Musik von Harmonia“ mit einem Album mit Remix-Versionen und „Reworks“ gewürdigt wird. Das Ergebnis ist unterschiedlich prägnant, einiges erscheint auch nur digital, aber die Dubifizierung von „Ahoi!“ durch Matthew Herbert und das mit analogen Instrumenten ein gespielte „Harmoniumm“ von David Pajo verdeutlichen, dass sich Krautrock in seiner fluidesten Form als extrem anschlussfähiges Experimentallabor erwies, das seinen eigentlichen Einfluss auf die Popmusik, vor allem auf das, was mit all den Spielarten des Techno erblühte, erst sehr viel später offenbarte. Dass Michael Rother hier ebenfalls mit eingreift, sein eigenes Material neu montiert und mit seiner italienischen Partnerin Vittoria Maccabruni romantisiert, zeigt, wie dringlich und unbedingt weiterführbar diese Musik ist.