Parole Brandi: Behalt dein Fender Rhodes, gib mir nen Dudelsack
Unsere Kolumnistin hegt seit vielen Jahren eine Leidenschaft, die sie nur ungern (mit-)teilt: Mittelaltermusik.
Obwohl ich äußerlich wie jeder Mensch langsam älter werde, verspüre ich innerlich eher einen „Benjamin Button-Effekt“. Zumindest im Geiste werde ich von Jahr zu Jahr jünger. Und nur die Jugend erkennt weise, dass sich die Seele von der Stupidität der Welt radikal abgrenzen muss, um sich zu befreien …
Leider sieht „Abgrenzung“ von außen oft auch wieder aus wie Stupidität, um nicht zu sagen, daraus erwächst ja meist der größte Müll.
Ein Beispiel.
In meiner Jugend, so irgendwann zwischen 1998 und 2005, haben meine Freund:innen und ich offiziell Bands wie System Of A Down, Tool, Metallica, Nirvana oder Black Rebel Motorcycle Club gehört. Es gab in Dortmund diesen Club, das „Spirit“, der angeblich den Bandidos gehörte und wo ich demnächst nochmal vorbeigehen müsste, um zu sehen, ob der noch da ist, fällt mir auf.
Samstags legte dort immer ein in die Jahre gekommener Mann mit schwarzem, fettigem Haar die besagten Bands auf, und es gab eine Art Moshpit-Erlebnis, angezündet mit viel Schnaps und noch mehr Zigaretten.
Ich ging also brav mit meiner Freundin Jule ins „Spirit“, es war auch funny, es machte auch Spaß, aber meine heimliche, wirklich heißglühende Leidenschaft, die befand sich außerhalb von diesem Konsens des Alternative-Rock.
Verrutschte Mannsbilder und ein paar Humpen Met
Es war nämlich so, ich liebte Folklore. Und ja, in der Folklore gibt es hier und da Schnittmengen mit der Mittelaltermusik. Und auch das liebte ich leider. Behalt dein Fender Rhodes, gib mir nen Dudelsack. Behalt deine Disco-Funk-Boyband aus Australien, gib mir lieber ein paar verrutschte Mannsbilder inklusive ein paar Humpen Met.
Am allerliebsten mag ich eine Gruppe, die aus Polen kommt und sich Warsaw Village Band nennt. Diese Musik entdeckte ich in meiner ersten WG in der Dortmunder Nordstadt, lang ist‘s her. Ich war grade 20 und mein Mitbewohner Adam pflegte auf Kosten aller gegen Mitternacht Schnaps zu trinken und polnische Musik zu hören. Wollte ich nicht die Nerven verlieren, setzte ich mich also besser dazu (ein Bild fürs ganze Leben, Kinder) und ich fragte ihn, was diese Kratzgeräusche zu bedeuten hätten und er sagte, das seien keine Kratzgeräusche, das sei die beste polnische Newcomerband des Jahres 2005, Kapela ze wsi Warszawa, auf Englisch Warsaw Village Band, und in seinen strengen Augen las ich sofort, es war seine absolute Lieblingsband. Wie hypnotisiert saßen wir die halbe Nacht da, und er spielte mir diese weirde Musik vor.
Ungelogen, seit dieser Nacht höre ich diese Band. Ich habe in meinem Leben noch keine Band so oft gehört wie diese. Ich liebe das. Aber ich muss es mein Lebtag im Geheimen tun, sonst nimmt mein Leben eine ungute Wendung …
Melkmaschine und drei Ziegen
Groucho Marx muss ein ziemliches Ekel gewesen sein, aber mit seinem Evergreen „I refuse to join any club that would have me as a member“ hat er für mich in Bezug auf meinen Mittelaltermusik-Fetisch den Nagel auf den Kopf getroffen.
So gern ich mich auch abgrenze von allem, was mein direktes Umfeld für gut hält, so wenig kann ich bitteschön zu den Fans der Warsaw Village Band dazugehören. Das geht einfach nicht. Ich bräuchte jede Menge Kleidung aus Filz, damit ginge es schonmal los. Weiterhin benötigte ich einen festen Boyfriend mit Spitzbart, der gerne Lanzen schnitzt, beim Spazierengehen seine schwielige Hand in meine legt und morgens mit mir hungrigen Blümchensex vollzieht.
Ich bräuchte das innere Mindset, um mich auf Mittelalterfestivals nach einer Kakao-Zeremonie voll gehen zu lassen, alles um mich herum zu vergessen und meine Hände beim Tanzen jubelnd in die Höhe zu reißen, nur damit sich meine Silberarmreifen mit denen meiner Nachbarin verhaken und wir dann beide auch noch glauben, diese Begegnung wäre Schicksal.
Ich müsste mir Schuhe aus Fell nähen wollen, mir und meinen fünf Kindern, die der Spitzbart mir im Laufe von nur sechs Jahren machen würde, wir würden bald unsere Mietwohnungen kündigen und in einer zugigen Jurte leben, irgendwo an der Grenze zu Holland, nicht krankenversichert sein und jeden Morgen mit einem Stromgenerator die Melkmaschine für die drei Ziegen anschmeißen.
Nee, da behalte ich meine musikalische Geschmacksverirrung doch lieber für mich und tue weiterhin so, als würde ich gute Musik mögen und besuche gähnend langweilige Konzerte von sicher sehr guten Bands (ich nenne keine Namen) mit meinen sehr klugen Freund:innen und bleibe so dem oben skizzierten alternativen Schicksal so fern, wie es mir mit meiner „Veranlagung“ möglich ist.
Sich von der Abgrenzung abzugrenzen heißt im nächsten Level zu leben.