The Prodigy in Berlin: Mit der Exzess-Kettensäge zerlegte Breakbeats
So trotzen zurückgelassene Krieger dem Verlust von Keith Flint
Am besinnlichen ersten Adventsonntag findet im Velodrom Berlin das Konzert von The Prodigy statt. Wer gedacht hat, dass der Abend fromm wird und Keith Flints Fehlen die Live-Qualität der Gruppe massiv beeinträchtigen würde, hat die Rechnung ohne seine rechte Hand (den verbliebenen zweiten Frontmann Maxim Reality) und die brachial-exzessiven Prodigy-Jünger gemacht.
Bier, Taurin und Modesünden
Prodigy-Musik im Jahr 2023 lässt sich durch das Publikum fast besser beschreiben als durch das Konzert selbst. So drängt sich die feierhungrige Menge nicht als Erstes an die Bierbuden, sondern bildet Staus vor den Kaffee- und Red-Bull-Ständen. Erstmal „Energy“ antrinken, mit Taurin in Halb-Liter-Bechern. Der Altersdurchschnitt der Anwesenden liegt irgendwo zwischen 35 und 50 – hierher kommen heute Abend Leute, die schon in den 90er-Jahren bei Prodigys Hymnen mitgegrölt haben. Es mischen sich Typen in bunten Bommelmützen, die mit Leoprint und Batik gemusterte Leggings zu kurzen schwarzen Cargohosen tragen, unter Frauen mit pinkem oder blauem Haar in großflächig zerrissenen Strumpfhosen und hochsohligen Buffalo-Schuhen. „Komm du erst mal in mein Alter, dann reden wir über Moshpit“, erklärt ein Älterer einem Jüngeren, der spekuliert, ob besagte Moshpits an diesem Abend wieder so werden würden wie „damals“.
Der Support-Act, der die Menge schließlich weichklopft wie der Wirt das Wiener Schnitzel, spielt eine Melange aus Drum’n’Base, Techno, EDM, HipHop, Reggae und Dub – und dann ertönt noch Nancy Sinatras „Summer Wine“, und das Publikum singt mit. Soll man sich hier auskennen?
Zehn Minuten, bevor das Konzert beginnt, wird eine Mittfünfzigerin, dem Alkohol fast bis zur Besinnungslosigkeit erlegen, von Rettern hinter den Wellenbrecher abgeführt. Weiter vorn, im Bandgraben, sehen sich zwei Dutzend Securitys fünfmal so vielen Prodigy-Ultras gegenüber, wie in einem Hochzeitsspalier. Um Viertel nach neun entlädt sich dann die Stimmung. Orgiastische Urschreie dringen von der Bühne ins Publikum – Maxim Reality ist da. Endlich.
The Prodigy live: Wie eine futuristische Psychose
Der 56-jährige Maxim Reality, jetzt MC, Sänger und Publikumsanimateur in einem, springt über die Bühne wie ein Boxer, seine Fäuste segeln durch die Luft. Seine Rastazöpfe schwingen um ihn, wenn er sich dreht. Er trägt weiße Kriegsbemalung im Gesicht und schreit immer wieder „Where are my warriors?“ Er wirkt, als wäre er nicht allein – als wäre Keith Flint noch immer neben ihm. Dessen Geist schwebt nicht nur spürbar im Raum, sondern lässt sich insbesondere in der übergroßen Figurette erahnen, die parallel zur Bühne am anderen Ende des Innenraums aufgebaut ist. Bei „Firestarter“ schießen Laserstrahlen aus den Augen dieser Figur in alle Richtungen und zeichnen auf der Bühne schließlich die Umrisse Flints.
Maxim Reality und sein E-Gitarrist geben alles; sie schwitzen, knien sich in die Soli, sie kreischen und springen. Hits wie „Voodoo People“, „Poison“ und „Omen“ klingen animalisch, roh, brachial. Die Breakbeats, zu denen die Menge wie auf einem großen Massentrampolin herumspringt, klingen, als wären sie mit der Exzess-Kettensäge bearbeitet worden.
Das Konzert ähnelt einer futuristischen Psychose. Am Adventssonntag wurde mit The Prodigy jegliche Unschuld ausgetrieben – und ein verschwitztes, durchgetanztes, glückliches Alter ego geboren. Das alles ohne Keith Flint, aber mit einem hochmotivierten Maxim Reality, der das große Erbe mit viel Würde allein weiterträgt