„Music for the Masses“ von Depeche Mode: Größenwahn oder große Selbstironie?
Die „Bong“-Lautsprecher, wie auf dem Cover abgebildet, sollen die ganze Welt erreichen
Größenwahn oder große Selbstironie: Die heutigen Magenta-Musikanten kündigten bereits 1987 „Musik für die Massen“ an, nachdem ihr Vorgänger-Album „Black Celebration“, ein heimliches Meisterwerk, in den Charts eher mäßig abschnitt. Um die 25 Jahre alt waren Dave Gahan, Martin Gore, Alan Wilder und Andrew Fletcher, und „Music For The Masses“ sollte ihr bereits ihr sechstes Album sein. Die „Bong“-Lautsprecher, wie auf dem Cover abgebildet, sollen die ganze Welt erreichen, außerdem die Geschichte einbinden: das düstere Instrumental „Pimpf“ spielte auf das Deutsche Jungvolk an, „Sacred“ stellte die Heiligtümer der Kirche in Frage.
Depeche Mode etablierten grobkörnige Porträtfotografie und Musikvideos, für die Anton Corbijn hier und auch in den nächsten Jahren verantwortlich zeichnete. „Behind The Wheel“ mit seinem Glücksrad, der Vespa und einer Fahrerin mit Kopftuch, zeigte auch, wie sehr sich die Band von ihrem Synthipop-Ursprung entfernt hatte. Der grandiose Clip wirkt wie aus der Zeit gefallen. Auch der Sound wurde konkreter. Lediglich der Wassertropfen von „Nothing“ oder das leere Akkordeon-Luftgeräusch von „I Want You Now“ erinnerten noch an die Zeit der Klang-Experimente.
Das heute als Mega-Hit geltende „Never Let Me Down Again“ schaffte es damals nicht mal in die britischen Top 20. Aber „Music For The Masses“ war genau das Transit-Album zwischen der Teenage Angst von „Black Celebration“ und der Club-Dominanz von „Violator“ (ein weiterer ironischer Plattentitel), welches die Band 1987 schon nach vorne brachte. Am Ende ihrer Welttournee spielten Depeche Mode dann in amerikanischen Stadien: „Good Evening, Pasadena!“
Depeche Mode – 101:
Das ideale Studioalbum von Depeche Mode – wäre es in einem Studio auf genommen worden und nicht live vor Publikum in der Rose Bowl von Pasadena, wo die Band 1988 ihr 101. und letztes Tourkonzert gab. Die vier Musiker spielten damals noch nicht mit Schlagzeuger, sondern mit Drum- Computer und Rhythmen aus dem Synthesizer, was den Arrangements ein entsprechendes Bandmaschinenflair verlieh. Enthalten sind alle Songs der „Tour For The Masses“-Setlist, und für die Live-Versionen wurden etliche Stücke entzerrt und als Maxi-Versionen dargeboten, wie „Never Let Me Down Again“, dessen Single Depeche Mode mit einem ihrer Remixe vereinten. Als Best-of einer Popband sucht diese Songsammlung im Jahr 1988 ihresgleichen.
„101“ klingt daher wie ein Nonstop- Mix aus dem Backkatalog, in den Publikum hineingemischt wurde – bisweilen so abrupt, als müsste daran erinnert werden, dass sich hier 60.000 Leute im Stadion befinden. „Good evening, Pasadena!“, ruft Dave Gahan zu Beginn, aber die Aufnahme dieser nicht für Improvisationen bekannten Gruppe hätte auch aus Hamburg oder Madrid stammen können. Eine längere Interaktion bietet das abschließende „Everything Counts“, als Gahan das Publikum zum Mitsingen auffordert, was es auch dann noch tut, als das Lied vorbei ist. Das Ende des Sets gehört also den Stimmen, nicht den Maschinen.
Im Tourfilm, von D. A. Pennebaker und Chris Hegedus gedreht, kommt die Besonderheit dieser kalifornischen Show zum Ausdruck: dass eine britische Elektro-Popband den Durchbruch in den USA geschafft hat. Die Doku zeigt Fans bei ihrer Reise durch das Land, aber nicht allen Kinogängern gefiel es, anstelle eines vollständigen Konzerts US-Teenagern beim Busfahren zuzusehen, was für das Reissue nun als „filmischer Vorläufer des jugendkulturellen Reality-TV-Trends“ verkauft wird. Dafür enthält die digital restaurierte Edition nicht nur Interviews mit Band und Crew, sondern auch drei bislang unveröffentlichte Live-Videos. (Sony)