Cherry Glazerr
„I Don’t Want You Anymore“ – Überlebensgroß
Secretly/Cargo (VÖ: 29.9.)
Die Bad-Girl-Dramaqueen geht weiter in Richtung Pop.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich von Clementine Creevy und ihrer Band Cherry Glazerr schwärme. Provokanter Sarkasmus, ungezügelte Euphorie und eine Flut mitreißender Melodien sorgten schon auf früheren Alben für Glücksmomente. Nehmen wir „Wasted Nun“ von „Stuffed & Ready“, wo Creevys überemotionale Stimme zu donnernden Gitarrenwänden die Welt anbrüllt. Oder das fantastische Video zu „Told You I’d Be With The Guys“, in dem immer mehr durchschnittliche Männer in roten Poloshirts nutzlos herumstehen oder Nüsschen kauen. Man kann also sagen, Clementine Creevy ist die direkteste Verbindung zwischen Debbie Harry und Kathleen Hanna und dennoch kein wokes Riot Grrrl 2.0. Eher das Produkt einer dezenten Wohlstandsverwahrlosung made in L.A. mit entsprechend hoher Pop-Affinität. Ein bisschen Provokation – siehe Cover – gehört immer dazu.
Pete Shelley wäre sicher begeistert
Mit „I Don’t Want You Anymore“ gehen Cherry Glazerr ein kleines Stückchen weiter in Richtung Pop. Allerdings Pop im Sinne des Produzenten und Co-Songschreibers Yves Roth‑ man, der zuletzt mit Girlpool und Yves Tumor zusammengearbeitet hat. „Bad Habit“, mit seinem stark bearbeiteten Gesang, hat sogar einen dezenten Drall in Richtung Billie Eilish – was hervorragend funktioniert. Das folgende „Ready For You“ tänzelt eher zwischen funky Strophe und kraftvoll zupackendem Refrain. Eines der besten Stücke ist das großartige „Touched You With My Chaos“, wo die Gitarre schwerst nach Black Sabbath klingt und am Ende synthetische Streicher in Richtung Himmel entschweben.
Der Gesang ist hier nahezu perfekt, man glaubt Creevy jede Zeile, wenn sie in ihrer (gespielten) Verzweiflung bis an die Grenze des ihr stimmlich Möglichen geht. Doch das gehört nun mal zum Spiel mit der göttlichen Komödie des Pop, wo das eigene Scheitern gern stilisiert und überlebensgroß nachgebildet wird. Und das kann im Rock/Punk/Indie momentan keine so gut wie Clementine Creevy. „Soon, I’ll be your dog/ My head out your car/ Cause I like you killing me“, singt sie in „Soft Like A Flower“. Pete Shelley wäre sicher begeistert.