„The Hottest Place in the Universe“: Tina Turners innige Beziehung zu David Bowie
Anna Mae Bullock und David Robert Jones waren zwei verwandte Seelen aus unterschiedlichen Welten, die sich in den Achtzigern gegenseitig geholfen und unterstützt haben. Ob nun aus Liebe, Freundschaft oder Berechnung ist völlig egal.
Zu den am meist geteilten Bildern seit den Abendstunden des 24. Mai 2023 zählt jenes Schwarzweiß-Foto, auf welchem Tina Turner und David Bowie gemeinsam, zeitgleich und Mund an Mund aus einer Flasche Champagner trinken, sich dabei „zwangsläufig“ küssen, während Tina zärtlich ihre Hand auf Bowies Wange legt.
Daneben steht ein scheinbar schmollender Keith Richards mit seiner eigener Pulle Jack Daniels. Einen „Dreier“ hätte man sich auch schwer vorstellen können. Auf Feten kann halt immer nur Einer das Mädchen kriegen. Auf weiteren Aufnahmen dieses Momentes in der Musikgeschichte steht auch irgendwo noch John McEnroe rum. Ein historisches, feuchtfröhliches und hochkarätiges Backstage-Gelage erster Kajüte, so um 1983/84, Bowies Frisur nach zu urteilen, welche immer ein guter Zeit-Indikator ist.
Und ja, Bowie hat sie gekriegt, die Tina. Ins Studio. Und einmal sogar auf der Bühne. Zunächst coverte Tina Turner Bowies „1984“ auf Ihrem karriere-definierendem Album PRIVATE DANCER aus dem „gleichnamigen“ Jahr. Eine naheliegende und stimmige Wahl, denn Bowies DIAMOND-DOGS-Hommage an George Orwell ist zwar textlich dystopisch, musikalisch jedoch von Soulrythmen und Disco-Wah-Wah-Gitarren geprägt ist damit genau genommen jener Song, der Bowies „Plastic-Soul“-Phase einläutete und den endgültigen Abschied seiner Glam-Ära markiert.
Im Jahr 1984 begann für Bowie selbst der berufliche Kompromiss zwischen Kommerz und künstlerischem Anspruch, ein Spagat welcher für ihn in mit der GLASS-SPIDER-Kirmes in einem kreativen Leistenbruch enden sollte. Ein Jahr nachdem er mit LET‘S DANCE die Charts und die Welt beherrscht hatte, kam TONIGHT auf den Markt, ein Album mit welchem zu diesem Zeitpunkt weder eingeschworene Fans noch die breite Masse etwas anfangen konnten und welches zum großen Teil aus hochpolierten Coverversionen bestand, nach dem Erfolg von „China Girl“ auch wieder mit einer Co-Komposition seines WG-Genossen Iggy Pop, dem Titelsong. Dabei ließ Bowie bewusst den ursprünglichen, gesprochenen Prolog weg, denn ACHTUNG, dieses vermeintliche Liebeslied handelt in der Originalversion von Iggys LUST FOR LIFE aus dem Jahre 1977 von einem Mann, dessen Freundin gerade an einer Überdosis zugrunde geht: „I saw my baby, she was turning blue!“. Blau ist auf TONIGHT nur Bowies Gesicht auf dem Cover.
Auch wenn Turner mit Drogen und häuslicher Gewalt Ihre Erfahrungen gemacht hatte (nicht umsonst verkörperte sie die Acid Queen in Ken Russels durchgeknallter Filmversion von TOMMY mehr als glaubwürdig), hätte dies zu ihrem neuen, cleanen und wiedergeborenen Image nicht wirklich gepasst. Vielleicht war man aber auch einfach nur feige. So wurde aus einem Drogenalbtraum-Abschieds-Song aus dem dunklen Berlin der Siebziger ein radiofreundlicher White-Reggae zum Mitschunkeln, mehr UB40 als The Stooges. Und hier singen Bowie und Turner harmonisch im Duett, gleichzeitig miteinander und nicht abwechseln gegeneinander, wie noch drei Jahre zuvor auf „Under Pressure“, als sich Bowie mit Freddie Mercury duellierte. Hier haben sich alle lieb.
So auch bei Turners Konzert im nächsten Jahr in Manchester. Perfekt inszeniert und ausgeleuchtet erscheint Bowie zum Finale und schreitet die Showtreppe hinunter, frisch gefönt, mit gestärktem Stehkragenhemd und Fliege samt weißem Jacket , wie ein Traumschiff- Oberkellner, der sich in die ZDF-Hitparade verirrt hat, irgendwo zwischen Roland Kaiser und Scott Walker. Und dann umsingen und umschunkeln sie sich und irgendwie scheint es, als ob just in diesem Moment der Begriff „Cringe“ erschaffen wurde – und das letzte, an was man denkt, ist, dass sie gerade einen Song über eine Überdosis singen. Aber irgendwie ist es auch knisternd und sexy und gleichzeitig doch so unangenehm, als ob man seinen Eltern beim Klammerblues mit Zungenkuss erwischen würde.
Was Bowie seiner Gastgeberin zuflüstert und sie dann zum Lachen bringt, wurde von Lippenlesern weltweit als explizite Anzüglichkeit gedeutet, aber die Tatsache, dass Bowie sich just in diesem Moment bewusst in die Kamera dreht, lässt auf sein übliches provokantes Kalkül schließen. Give the people what they want to believe. Man möchte Ihnen zurufen: „Ey, nehmt Euch ein Zimmer!“. Von wegen „private“ Dancers. Turners Gesichtsausdruck, als ihr ein Groupie Bowie entreißen will und weggezerrt wird, ist jedenfalls unbezahlbar, auch wenn diese Aktion im Nachhinein verdächtigt gestellt und geprobt wirkt, ähnlich wie Bowies folgender Satz, neben Turner zu stehen „is about the hottest place in the universe“!
Hot war auch Turners Duett ein paar Monate später, als Mick Jagger ihr vor den Augen der Welt beim „LIVE AID“-Auftritt in Philadelphia den Lederrock wegriss, und zwar weitaus gekonnter und unpeinlicher als Timberlake und Jacksons „Nipplegate“ im Jahre 2004. Alles eben schon mal dagewesen. 1986 lieh sich Bowie dann Turners Frisur für seinen Goblin-König im Muppet-Spektakel LABYRINTH aus und gab ihr dafür „Girls“, eine Co-Komposition mit Erdal Kizilcay, mit welchem er neben einigen Ausrutschern in den Achtzigern („Too Dizzy“ anyone?) auch das großartige Album THE BUDDHA OF SUBURBIA produzieren sollte.
Auf „Girls“, welches 1986 auf Turners BREAK EVERY RULE erschien, findet sich nicht nur eine Anspielung auf Rutger Hauers legendären „Tears in Rain“-Todesmonolog aus „Blade Runner“, es spielt darauf vor allem auch Phil Collins das Schlagzeug – was insofern bedeutsam ist, als dass Bowie die mittleren schwierigen Achtziger später abwertend als seine „Phil-Collins-Phase“ bezeichnen würde. Und dann wäre da noch DER Werbeclip, in welchem Bowie als verrückter und bezopfter Wissenschaftler mithilfe eines Computers, eines High-Heel-Stiefels, einem Bild von Boticellis Venus (er hatte es ja seit jeher mit Kunst und Mode) und einer ausgelaufenen Flasche Pepsi Tina Turner im Labor kreiert. God may have created man, but Dave created Tina.
Dazu stolzieren die beiden in einer aus Joel Schumachers Fiebertraum geborenen Ästhetik im Funkenregen und singen dazu eine umgetextete Version von „Modern Love“. Später sollte Turner nochmal mit Rod Stewart für Pepsi singen und Bowie einen Werbeclip für das Mineralwasser Vittel machen. Wundert es da irgendjemand, dass Helene Fischer auf Lidl-Plakaten zu sehen ist?
Anna Mae Bullock und David Robert Jones waren zwei verwandte Seelen aus unterschiedlichen Welten, die sich in den Achtzigern gegenseitig geholfen und unterstützt haben. Ob nun aus Liebe, Freundschaft oder Berechnung ist völlig egal, genauso wer von wem mehr profitiert hat. Und ob die beiden jemals andere Duette als musikalische hatten? Who cares? Beide haben diese Welt zu einer besseren gemacht. „Girls, they come and they go. Like spirits, they vanish at dawn …“
P.S.:
1. Dass Keith Richards derjenige auf dem Foto ist, der immer noch am Leben ist, hat eine gewisse Ironie, und bringt den Verfasser dieser Zeilen bei aller Traurigkeit auch zum Schmunzeln.
2. Tina Turner hat 1984 nicht nur mit David Bowie gesungen, sie ist auch in dem Song „The Sound of a Gun“ auf dem Album MAN IN THE LINE von Chris de Burgh zu hören. Bowie und De Burgh in einem Jahr! Wer kann das schon von sich behaupten?