ESC-Bilanz 2023: Lord Of The Lost haben alles richtig gemacht – und wirkten doch wie aus Versehen in die Show geraten
Loreen gewann zum zweiten Mal. Frankreich und Spanien, Großbritannien und Deutschland scheiterten spektakulär mit – wie soll man sagen? – gewollten Beiträgen, die keiner wollte.
Triumphiert hat eine Frau, die ein fleischfarbenes Trikot und sehr lange Fingernägel trägt und sich aus einer engen „Sonnenbank“ (Peter Urban) befreit. Loreens Lied „Tattoo“, geschrieben von sechs Autoren, beginnt mit einer Abbaschen Wendung: „I don’t wanna go/ But baby, we both know/ This is not our time/ It’s time to say goodbye.” Loreen ist jetzt der einzige Mensch neben Johnny Logan, der den Eurovision Song Contest zweimal gewonnen hat – erstmals 2012 mit „Euphoria“.
Den zweiten Rang belegte der Finne Käärijä mit der populistischen Tanzroutine „Cha Cha Cha“, wie von den Buchmachern angekündigt. Er befreite sich zu Beginn seines Vortrags aus einer Bretterbude. Auf dem dritten Platz: die Israelin Noa Kirel mit „Unicorn“, deren Inszenierung wahrscheinlich die überzeugendste des Wettbewerbs war.
Kaum waren die Krönungsfeierlichkeiten in London abgeschlossen, wechselte das öffentliche Interesse den Schauplatz: Der ESC wurde von der BBC in Liverpool stellvertretend für die Ukraine ausgerichtet. Eine Woche lang erfuhren wir, dass Liverpool die Geburtsstadt der Beatles ist und dass die Bürger von Liverpool keine Engländer, sondern „Liverpudlians“ und „Scousers“ sind – und stolz darauf. Außerdem sind sie herzlich.
Camilla und Charles eröffneten die Arena bei den Royal Albert Docks, und am Anfang der Fernsehübertragung spielten Herzogin Kate und Andrew Lloyd Webber auf dem Piano einige Kadenzen von „Stefania“, dem ukrainischen Gewinnersong des letzten Jahres. Das experimentell gekleidete Kalush Orchestra führte das Lied auch noch einmal in der Halle auf. Und jetzt haben wir genug von der Flöte! Und zwar auch von der Flöte, die der kleinwüchsige Mann zwischen Trommlern und Amazonen für Moldau blies!
In seiner letzten Sendung kommentierte Peter Urban tapfer die Postkartenansichten von Rathäusern, Brücken und Bibliotheken von Großbritannien und der Ukraine. Die Toiletten, hatte Urban vorher angemerkt, lagen dicht an der Sprecherkabine. Vier Stunden dauerte die Show, die durch das Abfragen der sogenannten Jury-Stimmen in die Länge gezogen wurde. Die Jurys hatten sich mit überwältigender Mehrheit auf Loreen geeinigt, und dieses Votum wurde auch von der öffentlichen Meinung nicht gewendet. Hinter Loreen und Käärijä ist ein großer Abstand zu Noa Kirel und dem Italiener Marco Mengoni mit „Due Vite“, einem der wenigen traditionellen Lieder im Wettbewerb.
Italien ist das einzige Land der „Big Five“, also der immer schon qualifizierten Staaten, das reüssierte. Frankreich und Spanien, Großbritannien und Deutschland scheiterten spektakulär mit, wie soll man sagen?, gewollten Beiträgen, die keiner wollte. Chris Harms, der Sänger von Lord Of The Lost, liest immer die letzte Seite eines Buches zuerst. Er hätte auch gern vorher gewusst, wie der Wettbewerb ausgeht. Mit dem letzten Rang für Lord Of The Lost nämlich. Die Band wirkte wie aus Versehen in die Arena geraten. Harms rief „Liverpool, make some noise!“ in eine Halle, in der seit zwei Stunden nur Lärm herrschte.
Du kannst alles planen, aber der Eurovision Song Contest ist wie die hohe See.
Jetzt geht der deutsche Bootsmann von Bord. Der noble Peter Urban verabschiedete sich ohne Umschweife: „Es war mir ein Vergnügen und eine Ehre. Ihr Peter Urban.“ Zwei Dinge vor allem werden wir vermissen: Peter Urban war niemals borniert. Und er war niemals pathetisch.
Bei dem pathetischsten Fest der Welt (nach der Krönung).