Die rohe Bestie Mensch
Was würden wir tun, wenn wir unser inneres Kind nicht andauernd verbergen wüssten?
Vor Kurzem habe ich in dem Artikel eines Psychologen gelesen, dass es sowas wie „Erwachsene“ gar nicht gibt. „Erwachsene“ sind nur eine Erfindung von „Erwachsenen“, um so zu tun, als ob sie welche seien. In Wahrheit seien alle Menschen Kinder in verschiedenen Altersstufen.
Ab circa dem zehnten Lebensjahr erlernt man das Lügen und das Vortäuschen, später kann man seine kindlichen Wünsche und Triebe irgendwann verbergen und den Mitmenschen den Eindruck vermitteln, dass man aus anderen Gründen handelt: aus altruistischen, emphatischen, humanistischen, barmherzigen, selbstlosen, mildtätigen, uneigennützigen, edelmütigen, hochherzigen Gründen. Aber in Wahrheit geht es um den eigenen Vorteil, auch wenn dieser nur durch aufwändige Tarnmanöver und geschickte Schachzüge erreicht werden kann.
Seitdem stelle ich mir gerne vor, was meine Mitmenschen wohl denken, während sie mit der Maske der Unschuld und einem leichten Lächeln durch den Alltag flanieren.
Ein dicklicher Bankbeamter in einem grauen Anzug steht neben mir in einer Bäckerei und stiert auf ein Stück Schokotorte. Er möchte es aus der Auslage reißen und sich als Ganzes in den Mund schieben, um es in einem Stück runterzuschlucken. Der umständliche Weg mit bestellen, bezahlen, einpacken, nach Hause tragen, wieder auspacken, auf einen Teller legen und dann essen macht ihn ganz irre. Er schaut neben sich, bemerkt die anderen Menschen um sich herum und realisiert, dass er den zweiten Weg beschreiten muss. Ärgerlich.
An einer Bushaltestelle sitzt eine dicke ältere Frau auf der kleinen Plastikbank, ihr Po ist so dick, dass der zweite Platz neben ihr nur schwerlich zu besetzen ist. Ein Stück weiter steht ein mittelalter dünner Mann und stiert ins Nichts. Er kocht innerlich, er möchte die dicke Frau von der Bank vertreiben, sie am liebsten zur Seite schieben, bis sie von der Bank kippt und dort steif auf der Seite liegen bleibt. Leider kommt der Bus.
Eine Dame mit feiner Großstadtkleidung möchte bei Edeka eine Flasche Champagner bezahlen. Sie geht auf die Kasse zu. Auf dem Weg kommt ein etwa zwölfjähriger Junge herbeigeeilt und stellt sich vor sie an die Kasse. Sie überlegt, ob sie ihm die Flaschen von hinten über den Kopf hauen könnte. Aber dann das ganze Durcheinander, die Aufregung, die Zeitverzögerung, das möchte sie nun auch nicht. Ihre Kiefer malen hasserfüllt während sie in ihrem Smartphone Louis Vuitton Werbung betrachtet.
In einem Schwimmbad ist ein dicker alter Mann aufs Dreimeterbrett geklettert. Er möchte gerne springen, aber unten im Wasser tollen Jugendliche herum. Er stellt sich vor, wie er mit Arschbombe auf die Jugendlichen raufspringt und sie alle als Strafe für ihre Unachtsamkeit ertrinken müssen.
Am schönsten finde ich die Vorstellung, dass alle Erwachsenen auf einmal nicht mehr lügen könnten, dass alles ungefiltert rauskommt. Was dann auf den Straßen los wäre: ein völliges Irrenhaus, ein gutturaler Ursumpf, ein einzige Riesensauerei, ein gigantisches Schreien und Hauen und Kreischen und Fressen und Pissen und Saufen und Kotzen und Grölen und wieder Hauen und Wegnehmen und Kacken und Johlen und Saufen.
Fast so wie in Köln zum Karneval.
Das zivilisierte Benehmen ist nur eine antrainierte Farce. Unter der dünnen Milchhaut der Oberfläche lauert die rohe Bestie Mensch, konvulsivisch zuckend, in den eigenen Hormonen bratend, aggressiv, hungrig und geil, bereit jeden umzunieten, der ihr in die Quere kommt.
Autorenbild von Kerstin Behrendt
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