Dolly Parton und „Coat Of Many Colors“: Begierden der Jugend

Die Platte ist ein nostalgischer Ritt durch die Vergangenheit in eine Zeit ­familiärer Geborgen­heit und der Schmerzen des Erwachsen­werdens.

Lange bevor sie zum wasserstoffgebleichten, üppig auftoupierten Country-Pin-up mutierte, bevor sie zu einer aus Schönheitsoperationen zusammengepuzzelten Karikatur ihrer selbst verflachte, war Dolly Parton nicht nur ­eine große Sängerin. Sie war – anders als prominente Kolleginnen wie Emmy­lou Harris und Linda Ronstadt – auch eine große Songschreiberin. Jeder Mensch kennt „Jolene“, jeder Mensch kennt „I Will Always Love You“, ein zartes Liebeslied, das Whitney Houstons erotisiertes „Bodyguard“-Fanal nicht gebraucht, aber das Konto seiner Urheberin gut gefüllt hat.

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Schon auf ihrem Debütalbum, „Hello, I’m Dolly“ von 1967, wird Parton bei den meisten Stücken als Koautorin geführt. Sie ließ sich von den Kerlen nie die Butter vom Brot nehmen, behielt in einem Genre, das nicht unbedingt dafür bekannt ist, tradierte Geschlechterrollen zu hinterfragen, die krea­tive Kontrolle. Dafür wird sie heute zu Recht verehrt.

1971 erreichte sie den Zenit ihrer Kunst, veröffentlichte vier Alben, eines mit ihrem Mentor Porter Wagoner, drei solo, das beste davon: „Coat Of Many Colors“. Dabei enthält es nicht mal die Parton-typischen Selbstbehauptungslieder, mit denen sie etwa untreuen Partnern die Stirn bot. Die Platte ist vielmehr ein nostalgischer Ritt durch die Vergangenheit, eine Reise zu den Sehnsuchtsorten, in die von Parton heiß geliebte und viel besungene Heimat in den Great Smoky Mountains, in eine Zeit ­familiärer Geborgen­heit, der Begierden der Jugend und der Schmerzen des Erwachsen­werdens.

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„Traveling Man“ und „She Never Met A Man (She Didn’t Like)“ erzählen mit trügerischem Liebreiz von Frauen, die sich nehmen, was sie wollen. „My Blue Tears“ entwirft ein ironisches Bild reinsten Kummers. Von den drei Stücken aus Wagoners Feder rührt vor allem die anmutige Ballade „The Way I See You“ zu Tränen, weil es sich nicht schämt zu sagen, was es heißt, jemanden anzubeten. Doch ist es dieses Titelstück, das einem das Herz bricht, diese Erinnerung an die Kindheit, als das Geld knapp war und Mutter aus der Not eine Tugend machte. Es ist die Essenz von Country: ­eine denkbar einfache Geschichte über denkbar einfache Leute in einem einfachen Lied, das die kleinen Dinge des Lebens preist.

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Heute wirbt die Grande Dame mit Konzerten um Spenden für die kostenintensive Instandhaltung ihres Vergnügungsparks Dollywood und die noch kostenintensivere Instandhaltung ihrer körperlichen Fassade. Den Wahnwitz des Showgeschäfts parodiert Parton mit ihrem bloßen Antlitz. Nicht immer scheint ihr das bewusst zu sein. Aber vielleicht kann sie die Kindheit gerade deshalb so berückend besingen, weil sie weiß, dass es das Paradies ist, in das wir nie mehr zurückkehren können. Was bleibt, ist der Stachel der Wehmut. Und was ist diese Wehmut anderes als eine aus bunten Lumpen zusammen­genähte Jacke?

Dieser Text ist Teil der von ROLLING STONE gewählten 50 besten Country-Alben aller Zeiten

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