Neunte Kunst - exklusiver Einblick

Sexworker-Comic „Hinterhof“: Im Auftrag der ungelebten Lust

Die gezeichnete Reportage begleitet eine junge Frau, die ihr gesichertes Leben aufgibt, um in Berlin als Künstlerin und Sexarbeiterin zu arbeiten. Wir präsentieren einen Ausschnitt.

In den letzten Jahren wird öffentlich sehr intensiv über die Arbeits- und Lebensbedingungen von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern diskutiert. Während die ökonomischen Rahmenbedingungen in den meisten Ländern unterschiedlich sind (in Frankreich ist Prostitution verboten, in Deutschland müssen Sexworker ihre Arbeit sogar behördlich anmelden), zielt die Debatte deutlich auf eine Enttaubuisierung des Themenfeldes und eine gewünschte Verbesserung der oft unter menschenrechtlich fragwürdigen Bedingungen stattfindenden Arbeitsverhältnisse.

Mehr zum Thema
Exklusiver Einblick: Ton-Steine-Scherben-Comic „Keine Macht für Niemand“

Die Comic-Reportage „Hinterhof“ von Journalistin Anna Rakhmanko und Zeichner Mikkel Sommer
versucht sich an einer aufmerksamen Bestandsaufnahme, einer von sehr viel analytischem Verständnis geprägten Weitwinkelperspektive, auf dieses weite Feld, das trotz aller Bemühungen um Toleranz und moralische Neubewertung eine Dunkelzone bleibt.

Ihre Protagonistin haben die beiden in Berlin gefunden. Dasa Hink lebte vor zehn Jahren noch in den Niederlanden ein beschauliches Leben, war verliebt in einen Mann, der sich ein Familienleben auf dem Land wünschte. Die Vorstellungen von Haus und Kindern waren schon besprochen. Doch irgendetwas fehlte. Hink sehnte sich danach, Künstlerin zu werden, Designerin, Musikerin. Sie trennte sich. In der großen Stadt entdeckte sie schließlich auch ihre Sexualität neu. Dass eine offene Beziehung eher ihren Bedürfnissen nach Intimität und Lust entspricht. Und sie wurde zur Domina.

„Hinterhof“ interessiert sich nicht dafür, aus dieser persönlichen Metamorphose eine reißerische Geschichte der individuellen psychologischen Selbstbefreiung zu machen. Es gibt ja genügend Erzählungen von Landmädchen, die in der promiskuösen sexuellen Erfüllung ihre individuelle Freiheit finden (nur um dann zu entdecken, dass neue Abhängigkeiten sie niederreißen). Vielmehr geht es tatsächlich um den Arbeitsalltag im Sexgewerbe und wie der Umgang mit den zumeist männlichen Besuchern gelingt.

Rakhmanko skizziert die Aufzeichnungen ihrer Gespräche, als würde ihre Sexarbeiterin – die sich darauf versteht, alle möglichen Fetische zu bedienen oder gar erst in der Begegnung zu wecken, aber auf Penetration verzichtet – aus dem Off sprechen. Manchmal ist es eher ein Plaudern. Wie etwa das erste Gespräch mit einem Kunden abläuft. Welche Soft und Hard Skills benötigt werden, um die Anfangshürde niedriger zu bekommen. Mikkel illustriert diesen Monolog, der mal zurückhaltend beschreibend, dann wieder äußerst privat, immer aber von der eigenen Tätigkeit absolut überzeugt daherkommt, mit anonymen Bildern aus der Ferne und sehr extremen Close Ups. Der Strich orientiert sich an der Reportagefotografie und in Bezug auf die geschilderten sexuellen Details bleibt er dezent und ohne pornographisches Rauschen.

Cover von „Hinterhof“

Jeder Fetisch verlangt danach, ausgelebt zu werden

Was sofort auffällt: Dieser Comic-Bericht verneigt sich auch etwas vor seiner Heldin, die mit faszinierender Leichtigkeit erklären kann, was sie dort, wo man am liebsten nicht hingucken mag und sich deshalb eher versteckt (also im „Hinterhof“), mit jenen macht, die sich nach einer nichtgelebten Fantasie verzehren. Hink schildert, welchen Druck dies auf ihre Kunden ausübt, wie viele Stunden sie schon damit zugebracht haben, ihre geheime Lust im Geiste vorzuerleben, nur um dann – bereit, es mit einer professionellen Dompteurin für sexuelle Wünsche wie in einem Theaterstück aufzuführen – vollkommen zu erstarren.

Das mag eine Pointe sein, oder eben einfach ein melancholisches Detail: In dem Moment, wo die Erfüllung der Sehnsucht wartet, verkrampfen die meisten. Sie werden selbst zu einer Art Sexpuppe, denen die Seele entfliehen mag.

Dass einiges Geschick dazu gehört, dies zu verhindern, die Besucherinnen und Besucher zurück auf den Pfad der gelebten Lust zurückzuführen und sie dies in jeder erdenklichen Form genießen zu lassen, das stellt sich hier als die eigentliche Kunst im Handwerk einer Sexworkerin heraus. Menschenkenntnis und karitatives Geschick kommen noch weit vor jedem gelungenen Handgriff oder aufreizenden Wort.

Natürlich stehen in „Hinterhof“ auch einige schillernde Abnormitäten und Fetische im Raum. So ist die Rede von einem Mann, den es erregt, die Zunge einer Frau zu sehen, ihren Lippenstift zu riechen. Hink spricht in diesem Zusammenhang von einer Superkraft, und befreit so den Fetisch etwas von seiner Zwanghaftigkeit. Natürlich benötigt es ein Ding, ein Szenario, was auch immer, um überhaupt zu einer bestimmten Erregung zu gelangen, die ist dann aber von eigentümlicher Stärke. Etwas, das die Priesterin, die das große Schauspiel antreibt, für sich selbst gar nicht in Anspruch nehmen kann, wie sie beschreibt.


Comic-Blog „Neunte Kunst“


Rakhmanko und Mikkel behandeln diese Anekdoten mit viel Feingefühl, sie skizzieren sie nicht als albern, überhöhen diese unerhörten Details aber auch nicht. Nie verlässt der Comic sein natürliches Terrain der kontrollierten Beobachtung einer Geheimwelt, die ihren Wert schließlich nur bewahren kann, wenn sie abgeschottet bleibt. Und so wird Dasa Hink nebenher eben auch als ganz gewöhnlicher Mensch geschildert, mit Appetit auf Salat und bei Kuscheleinheiten mit ihrem Hund.

Womöglich ist es für das Anliegen des Comics von Vorteil, dass es sich hier nicht um eine von anderen Männern abhängige Sexarbeiterin in einem Bordell handelt, so dass die Rituale, die in „Hinterhof“ geschildert werden, ein wenig auch wie verlängerte Kunstgriffe einer Kreativen erscheinen, die sich eben nicht nur aufs Zeichnen beschränkt, sondern auch auf das hautnahe Erfüllen von Begierden. Gleichwohl bringt „Hinterhof“ die notwendige Empathie auf, um Leserinnen und Leser davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, so manches Vorurteil noch einmal zu überdenken. Oder über die Macht der Vorurteile neu zu sinnieren.

Alle Bilder: avant-Verlag

avant-verlag
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates