Annie Leibovitz: Die Ikonographin der Pop-Moderne
Keine Fotografin dürfte so nah an all die Schönen und Kreativen herangekommen sein wie Annie Leibovitz. Den Grundstein ihres Erfolges legte sie beim ROLLING STONE.
„Etwas, das man in jedem meiner Bilder sieht, ist, dass ich niemals auch nur einen Zweifel daran hatte, mich in diese Menschen zu verlieben.“ Mit diesen Worten erklärt Annie Leibovitz, die große Inszenierungskünstlerin der Pop- und Rockkultur, die nur mit einer Kamera und ihrem spitzbübischen Charme ausgestattete Hofberichterstatterin der Schönen, Kreativen und Reichen, warum ihre Fotos vielleicht etwas mehr leuchten und auch berühmter sind als viele ihrer Kollegen.
Annie Leibovitz ist ein Phänomen geblieben, seit sie sich 1970 mit viel Selbstbewusstsein als Fotografin beim ROLLING STONE bewarb (noch als Studentin der Malerei und Fotografie am San Francisco Art Institute) und mit ihrer Fotomappe und Bildern, die von Straßenfotografie und Frank Capra ebenso sehr inspiriert waren wie von Henri Cartier-Bresson, Magazingründer Jann S. Wenner derart begeisterte, dass er sie sofort als Hausfotografin anstellte. Ein Glücksfall für beide Seiten. Bis 1983 arbeitete sie fest für das Magazin und entwickelte eine intime Herangehensweise an die Musiker, die ihresgleichen suchte. Mehrere Tage begleitete sie die Porträtierten, um in ihr Leben einzutauchen und im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken oder ein Szenario vorzuschlagen, das rundherum zur Persönlichkeit passte. Man kann ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass Leibovitz mit ihren Bildern die Vorstellung von Musikern als echten Stars erst miterfand.
Das lag auch daran, dass ihre Fotos, die ihre Unbekümmertheit paradoxerweise aus einer sehr sorgfältigen Choreographisierung und einer fast schon psychoanalytisch geschulten Methode, das Unbewusste sprechen zu lassen (man denke nur an das legendäre ROLLING-STONE-Cover von John Lennon und Yoko Ono, das kurz vor dem Tod des Beatle entstand), bezogen, stets etwas Unwirkliches an sich haben. Als wüsste Leibovitz etwas über ihre Klienten, das anderen verborgen bleiben muss, weil eben nur sie so nah heran darf.
The Cover of the Rolling Stone
Mit einer spirituellen Wahrheit hat dies nicht immer etwas zu tun, die Fotografin blieb nur stets akribisch ihren Idealen treu und fleißig wie kaum eine andere, um ihre Vision umzusetzen. Ohne die Grafikdesignerin Bea Feitler, die so etwas wie Leibovitz‘ Mentorin wurde, wäre dies wohl kaum möglich gewesen. Die Fotografin entwickelte sich auch dank ihr von der authentischen Street-Photography hin zur Ikonenmalerin mit Fotoapparat. War die Konzeptlosigkeit und der frische Blick auf etwas Bestehendes vorher ihr Mittel der Wahl, so wurde es nun umgekehrt die kluge Rahmensetzung. Ihre genialen Bilder zierten das Cover des ROLLING STONE und sorgten aufgrund ihrer Ausdruckskraft und Originalität mit dafür, dass die erste Seite des Musikmagazins selbst zum Mythos wurde. Wer wollte nicht gerne auf dem Cover des ROLLING STONE sein?
Zuletzt bekam sie die Fußballgötter Cristiano Ronaldo und Lionel Messi für eine Schachpartie in Paris vor die Linse. Vor ihrem letzten großen WM-Turnier – und der nur noch jetzt möglichen Chance, doch noch den Weltpokal mit ihren Nationen zu gewinnen. Zwei Gladiatoren als nachdenkliche Strategen, aber auch ohne Blickkontakt. Feinde? Zumindest Rivalen. Früh machte das Gerücht die Runde, dass Leibovitz die beiden nicht zusammenbringen konnte und das Foto aus zwei Einzelsessions montierte. Und es spricht für die inzwischen 73-Jährige, dass dieser Mangel dann doch wieder zur Stärke ihrer Inszenierung wird. Denn was verdeutlichte mehr den nahezu außerirdischen gesellschaftlichen Charakter dieser Ausnahmesportler, dass sie die Distanz auch für ein solches Bild nicht aufgeben wollen.
Die Karriere von Leibovitz hat natürlich selbst etwas von Rock’n’Roll, weswegen ihr Ruf der einer ehrgeizigen Sucherin geblieben ist, die allerdings schnell über den Erfolg der Medien hinaus ging, für die sie arbeitete. Nachdem Leibovitz die Rockmusik durchbebildert hatte und nach einer Arbeitsreise mit den Rolling Stones drogenabhängig geworden war, suchte sie Anfang der 80er Jahre mit der Gründung der „Vanity Fair“ eine neue Herausforderung. Hier gelangen ihr faszinierende Aktaufnahmen, die nie etwas anrüchiges hatten (Whoopi Goldberg und Demi Moore), sondern stets verspielt blieben und auf eine kindliche Art verschämt und abenteuerlich. Natürlich war dies auch die Zeit, in der die Werbe- und Modefotografie boomte – und Leibovitz, etwa für die „Vogue“, vereinnahmte.
Mit viel Elan probierte sie sich auf den verschiedensten Feldern aus, fotografierte Sportler oder widmete sich Nackt-Porträts für den Pirelli-Kalender. Die stilvolle Keckheit, mit der sie dann auch Queen Elisabeth II. in Szene setzen durfte, beweist, welchen Einfluss sie auch in ihrer Spätblüte – nach all den vielen bekannten Motiven, die sie geschaffen hatte, nach einer erschreckenden Schuldenkrise und der als geschmacklos empfundenen Bebilderung des Todes ihrer berühmten Lebenspartnerin Susan Sontag – noch auszuüben vermochte.
Es gibt zahlreiche Bildbände, die essenzielle Fotografien von Annie Leibovitz enthalten. Sie alle werden geschlagen von einem so genannten Sumo-Band, der 2014 im Taschen-Verlag erschien und nahezu wortlos, aber in bester Fotoqualität und in einem breiten Rahmen, der den visionären Bildideen Leibovitz‘ gerecht wird, die wichtigsten Fotos aus vielen Jahrzehnten an der Kamera enthält. Der 26 Kilogramm schwere Wälzer war damals auf wenige Exemplare limitiert, ist nun aber in einer handlicheren, schnörkellosen XXL-Ausgabe noch einmal erschienen.
„Das Buch ist sehr persönlich und erzählt seine Geschichte mit den Mitteln der Popkultur“, sagt Leibovitz zu dem Buch. „Es ist nicht chronologisch geordnet, und es ist keine Retrospektive. Es ist eher so etwas wie eine Achterbahnfahrt.“ Und das mag ein passendes Bild sein, für eine Foto-Reporterin auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, die sich selbst zwar immer sehr ernst nahm, aber ihre Kunst zu einer großen Kirmes machte.
Annie Leibovitz SUMO
Annie Leibovitz, Steve Martin, Graydon Carter,
Hans Ulrich Obrist, Paul Roth
Hardcover im Schuber, 27,1 x 37,4 cm, 5,80 kg,
556 Seiten
€ 125
TASCHEN