Interview zu „Im Westen nichts Neues“: „Deutschland hat eine singuläre Perspektive auf das Thema Krieg“
Regisseur Edward Berger hat den den Roman von Erich Maria Remarque neu verfilmt. Wir haben mit ihm und dem Cast des Films darüber gesprochen, wie sie den Antikriegs-Klassiker auf die Leinwand gebracht haben.
Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues” (1928) gilt als das Antikriegsbuch schlechthin. Die schonungslose Darstellung des Grauens auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs brachte Remarque später den Hass der Nazis ein, machte ihn aber auch weltberühmt. Eine erste Verfilmung folgte schon 1930 und gewann als dritter Film überhaupt den Oscar. 1979 wurde das Buch zum zweiten Mal verfilmt, nun hat Regisseur Edward Berger „Im Westen nichts Neues“ für Netflix einen neuen Versuch gewagt.
ROLLING STONE hat mit Edward Berger und den Darstellern Felix Kammerer (Paul Bäumer), Albrecht Schuch (Kat) und Edin Hasanović (Tjaden) gesprochen. Die Interviews wurden getrennt geführt.
„Im Westen nichts Neues“ wurde schon zweimal verfilmt, 1930 und 1979. Was war für Sie der Grund, es noch einmal zu versuchen?
Edward Berger: Der ausschlaggebende Grund, diese Geschichte neu zu erzählen, war, dass „Im Westen Nichts Neues“ eine wirklich deutsche Geschichte und ein deutsches Buch ist. Deutschland hat eine singuläre Perspektive auf dieses Thema, da das Land zwei brutale Weltkriege geführt hat, die die Welt verändert und geformt haben. Damit geht eine große Verantwortung einher. Wenn ich als Amerikaner*in oder Engländer*in einen Film über den Krieg drehe, habe ich allein schon aufgrund meiner Herkunft eine ganz andere Perspektive auf die Ereignisse von damals. England wurde angegriffen und die Soldaten sind in den Krieg gezogen, um ihr Land zu verteidigen. Amerika ist nur widerwillig in den Krieg eingetreten und hat Europa am Ende vom Faschismus befreit. Wenn ich als Filmemacher*in mit dem Erbe dieser Geschichte aufwachse, erzähle ich einen Film, indem ich auch mit einem gewissen Stolz auf die Ereignisse zurückschauen kann. Dabei kann dann unter Umständen eine Heldengeschichte entstehen. Das kann in Deutschland aber niemals der Fall sein.
Sie haben die Geschichte um einen zentralen Handlungsstrang erweitert: Sie begleiten den Politiker Matthias Erzberger (Daniel Brühl), der die Waffenstillstandskommission leitete, bei seinen Verhandlungen mit Frankreich. Was hat Sie dazu bewegt, diesen Aspekt in den Film mit aufzunehmen?
Edward Berger: Mittlerweile sind mehr als 90 Jahre seit dem Erscheinen des Romans vergangen. Mit unserem historischen Wissen werfen wir inzwischen einen anderen Blick auf die Ereignisse von damals. Der Erste Weltkrieg wurde vom Zweiten überschattet, es war erst der Beginn von einem noch viel größeren Grauen. Deshalb fand ich es wichtig, ein Schlaglicht auf die Zukunft zu werfen, auf all das, was da noch kommen sollte. Die Geschichte von Matthias Erzberger wurde damals von Militaristen und Nationalisten benutzt, um die Lüge zu verbreiten, dass die Politik das Land verraten und mit einem Dolch in den Rücken gestoßen hat. Wie wir heute wissen, wurde mit dieser Lüge schon der Grundstein für das Ende der Weimarer Republik gelegt. Und später wurde sie dann als Legitimation für einen weiteren Krieg benutzt. Das ist eine Erkenntnis, die Remarque in den Zwanziger Jahren noch nicht haben konnte, da sein visionärer Roman lange vor dem Zeiten Weltkrieg erschienen ist.
Worum geht es für Sie bei „Im Westen nichts Neues“ im Kern?
Edward Berger: Die Essenz des Buches ist für mich, wie junge Menschen von Demagogen manipuliert und überzeugt werden, dass ein Angriffskrieg völlig legitim ist. Sie ziehen voller Unschuld und Begeisterung an die Front und verstehen erst dort, dass alles, was sie bisher gelernt haben, dass jegliche Moral und alle Werte im Matsch der Schützengräben nichts wert sind. Sie verlieren ihre Jugend und verkommen zu Tötungsmaschinen, die eines innerlichen, wenn nicht sogar tatsächlichen Todes sterben. Diese Maschinerie, von der die Menschen im Krieg zermalmt werden, ist die Essenz des Buches. Diese Essenz habe ich, trotz aller Freiheiten und Änderungen, versucht zu bewahren.
Was kann uns der Stoff 90 Jahre nach Erscheinen des Buches noch sagen?
Felix Kammerer: Die Story ist ja eigentlich immer die Gleiche. Dieser Mist von Krieg und Gewalt wiederholt sich immer wieder und wir werden es nicht los. Da braucht es ein ständiges Erinnern. Man spürt das ja auch heutzutage in der Politik, der Ton wird rauer, es wird brutaler, radikaler. Jetzt gerade in Italien, in Ungarn, in Polen, in Österreich. Es tut sich etwas, die Stimmung verändert sich, und damit man einen Frieden erhalten kann, damit man auch ein friedliches, demokratisches Zusammensein gewährleisten kann, muss dafür gearbeitet werden. Das ist Nichts, was einem geschenkt wird. Und dabei kann das Buch eine große Hilfe sein, daran zu erinnern, dass das nicht selbstverständlich ist.
War das das erste Mal, dass Sie mit dem Stoff in Berührung gekommen sind?
Albrecht Schuch: Tatsächlich ja. Ich war zwar im Deutsch-Leistungskurs, aber wir haben dieses Buch nicht auseinandergenommen. Glücklicherweise habe ich durch dieses Projekt die Gelegenheit bekommen, endlich diesen Roman von Remarque zu lesen, der ja zurecht als eines der großen Meisterwerke angesehen wird, wo „Meisterwerk“ tatsächlich noch verwendet werden darf.
Felix Kammerer: Viele lesen das ja in der Schule, das Glück hatte ich nicht. Ich habe es zum ersten Mal während meines Studiums gelesen, weil es mich interessiert hat. Als Vorbereitung auf den Film habe ich es natürlich unzählige Male gelesen und beide Verfilmungen angesehen. Das ist schon so ein Ding, das knallt einen weg. Da kommt die Dampfwalze, und dann braucht man erstmal ein paar Tage, um damit zurechtzukommen.
Haben Sie den neuen Film schon gesehen und was denken Sie darüber?
Edin Hasanovic: Ja, wir Schauspieler hatten vor einem Monat die Gelegenheit dazu. Das war echt spannend. Viele von uns konnten die Nacht davor nicht gut schlafen. Es gibt ein Selfie von uns vorher und eins danach. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ich erinnere mich, dass wir danach nicht miteinander geredet haben. Eine halbe Stunde lang konnten wir uns nur umarmen und still sein, und das wirken lassen. Es ist kein Film, bei dem die Leute danach abgehen oder euphorisch sind, sondern das muss man erst einmal verarbeiten. Ich habe ihn jetzt schon fünf, sechs Mal gesehen und mir geht es immer noch so. Jedes Mal denke ich aufs Neue, Alter Schwede, das ist keine leichte Kost, ganz im Gegenteil.
Wie schafft man es, wirklich einen Antikriegsfilm zu drehen, der die Gewalt nicht doch mitreißend aussehen lässt?
Albrecht Schuch: Indem man wirklich beim Menschen bleibt und die emotionalen Zustände aufzeigt und nicht verfälscht und nicht als Held darstellt oder als besseren Menschen, oder was auch immer. Indem man aufzeigt, zu was Morden führt, und Krieg führt. Nämlich zu Zerstörung und nichts anderem, egal ob man den Krieg überlebt hat, oder nicht. Und das hört danach auch nicht auf. Mit diesen Erfahrungen begegnet man seinen Kindern und Kindeskindern. Diese Traumata, dieser Hass, dieser Zorn, das wird gesät und vererbt. Irgendwann landet es wieder auf dem Tisch. Und diesen teuflischen Kreislauf muss man immer wieder versuchen, zu durchbrechen.
Edward Berger: Ich wollte einen Film machen, der die Zuschauer*innen am Kragen packt und ihnen dabei die Faust im Magen umdreht. Wir wollen die Zuschauer*innen hinter Paul Bäumer herzerren, sie physisch packen und ihnen das Gefühl geben, sie seien selber schon fast mittendrin. Ganz bewusst soll man sich dabei auch unwohl fühlen. Es soll schwer erträglich sein und bis an die Grenzen gehen. Und dennoch wollte ich das beobachtende, journalistische Gefühl des Romans beibehalten, mit der Kamera einen Schritt weit zurück treten und die Geschehnisse beschreiben, den Zuschauer*innen Raum geben für ihre eigenen Gefühle, ohne zu viel zu manipulieren oder emotionalisieren. Für mich ist es als Zuschauer immer stärker, wenn ich mir meine eigene Meinung bilden kann und mir die Filmemacher*in nicht erzählt, was ich zu empfinden habe.
Edin Hasanovic: Wenn man sich das anguckt, sieht man auch, dass es nie cool aussieht, sondern dass du immer das Leid siehst, die Frage: Wo bin ich hier denn gelandet. Und das ist auch, was mich am ganzen Film am meisten berührt: Der Anfang. Wenn sie sich freuen, und singend da reingehen und lachen. Sie haben ein Strahlen im Gesicht, und du denkst, Junge, Junge, Junge, ihr wisst überhaupt nicht, was euch erwartet. Ihr seid so jung, und seid von Demagogen um euch herum so verblendet worden. Deswegen ist es auch keine Heldengeschichte. Man sieht nur Verlierer.
Sie erwecken im Film sehr plastisch das Niemandsland der Westfront des Ersten Weltkriegs zum Leben, wo der Stellungskrieg seit Jahren zwischen Schützengräben eingefroren ist. Wie sind Sie da herangegangen?
Edward Berger: Praktisch haben wir erst einmal ein riesiges Schlachtfeld gebaut. Ich weiß nicht genau, wie viele Fußballfelder es insgesamt waren, aber vielleicht 20, 30, 40… Diese Fläche immer nass und schlammig zu halten, das war wahnsinnig aufwendig, denn es hat ja auch nicht fortwährend geregnet. Außerdem wurden die Kostüme naturgetreu aus Filz nachgeschneidert, ein Material, das sich schnell mit Wasser vollsog. Auch die Stiefel waren aus undichtem Leder. Somit wogen die Kostüme im Regen dann plötzlich 30 Kilo mehr. Dieses Gewicht durch den Matsch zu schleppen, das war natürlich eine sehr physische Aufgabe für die Schauspieler und Komparsen. An manchen Tagen fuhr ich mit dem Kameramann zum Set und dachte, dass schaffen wir niemals.
Felix Kammerer: Die Kostüme waren fantastisch, Lisy Christl, die Kostümbildnerin, hat wirklich einen fantastischen Job gemacht. Das waren alles authentische Materialien, authentische Schnitte. Sie hat auch mit vielen militärischen Beratern zusammengearbeitet. Dazu Heike Merker, unsere Maskenbildnerin, die uns jeden Tag von oben bis unten mit Schlamm und Dreck und Blut eingesaut hat. Dazu kamen dann 1500 Komparsen, die alle im Dreck liegen, und Schlachtfeld, das von unserem Szenenbildner Christian Goldbeck entworfen wurde, es waren 120.000 Quadratmeter Schlachtfeld, mit Panzern, Flammenwerfern, Explosionen, kilometerlangen Schützengräben. Wenn du drin standest, hast du außer dem Schlachtfeld nichts mehr gesehen, weil es so weitläufig war. Wir sind morgens aufs Schlachtfeld gegangen und abends nach Hause und dazwischen gab es nichts anderes.
Wir haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?
Edin Hasanovic: Wir hatten gute Vorbereitung physischer Natur, wir waren in einem Bootcamp und haben trainiert, wie man sich eine Gasmaske aufsetzt, wie man kriecht, wie man als Soldaten miteinander umgeht. Das war das eine, diese körperliche Herausforderung. Auf der anderen Seite musst du dich über Wochen hinweg jeden Tag mit Tod und Leichen und Grausamkeiten beschäftigen. In den ersten zwei, drei Wochen haben wir das als eine Art berufliche Herausforderung gesehen. Aber irgendwann gingen uns diese Leichenpuppen, die um unser Maskenmobil präpariert wurden, nahe. Dagegen konnten wir uns nicht mehr wehren. Dann haben wir darum gebeten, dass die bitte woanders präpariert werden. Du kommst morgens um fünf ins Maskenmobil, und das Erste, was du siehst, sind abgetrennte Körperteile, Blut und so weiter. Und trotzdem gibt es einen riesengroßen Unterschied. Ich würde mir niemals anmaßen, zu sagen, es war wie Krieg. Wir waren nicht mit der Angst um unser Leben konfrontiert. Es wurde sich um uns gekümmert. Wir hatten Essen und Trinken. Wir hatten abends im Hotel die Dusche und ein warmes Bett. Es sah aus wie Krieg, aber es hat sich nicht so angefühlt.
Felix Kammerer: Ich habe erst einmal vier Monate lang mit einer Gewichtsweste trainiert, das waren so zehn Kilo. Dreimal die Woche bin ich damit jeweils zehn Kilometer laufen gegangen, um Kondition aufzubauen. Ich habe aber relativ schnell gemerkt, dass zehn Kilo ziemlich optimistisch gefasst war. Unsere Kostüme waren aus Filz, die saugen sich voll. Dann haben wir das Equipment, Stahlhelm, Stiefel, alles ist voller Schlamm, alles saugt sich voll. Am Ende des Tages haben wir ein komplettes Kostüm gewogen, es wog 45 Kilo. Damit rennst du zehn Stunden am Tag bei vier Grad durch knietiefen Matsch. Für die Rolle hatte ich einen Dialektcoach, die großartige Simone Dietrich, ich hatte einen Schauspielcoach, Jens Roth, ich hatte Waffentraining. Und dann habe ich mich reingefuchst in Filme, Videos, Audioaufzeichnungen. Was sehr hilfreich war, es gibt online ein Archiv mit Feldpost. Das sind über 2000 Briefe aus dem Ersten Weltkrieg, die habe ich mir reingeknallt. Das war schon hilfreich, ein bisschen den Alltag von der Front mitzubekommen, was die Soldaten schreiben und vor allem auch, was sie nicht schreiben.
Was stand zum Beispiel in den Briefen?
Felix Kammerer: Das ist echt spannend, es ist unterschiedlich. Man liest oft leichte Verweise, wenn jemand schreibt „Ich hoffe es geht euch gut, wie geht‘s dem Kleinen“. Das sind ja auch, Briefe, es sind keine Chats, auf die sofort geantwortet wird, man muss möglichst viele Information und Fragen reinpacken. Und dann heißt es, „Der Justus ist jetzt erstmal weg“, und man kann erahnen – er ist verletzt, oder ist er tot? Es geht so eine Geschichte im Kopf los, man kriegt von jeder Person ein eigenes Bild. Vor allem, wenn man Briefe liest, in denen geschrieben wird, wie sehen uns dann zu Weihnachten. Und das ist ein Brief, November 1914, und man weiß, ihr seht euch nicht zu Weihnachten, da ist es noch nicht vorbei. Aus der Perspektive diese Briefe zu lesen, ist schon echt krass.