Kritik: The Cure live in Berlin – Oma ist zurück, und sie will Blut statt Regen
Ein routiniertes Set reicht aus für einen großartigen Abend: The Cure in Berlin
Cure-Konzerte sind immer gut. Seit über zehn Jahren sind sie sogar sehr gut. Die Band muss Tourneen nicht mehr zur Bewerbung aktueller, immer schlechter werdender Alben nutzen, denn das letzte erschien 2008. Robert Smith kann längst ein Greatest-Hits-Programm aus dem Back-Katalog präsentieren. Greatest Hits meint bei The Cure: eine Mischung aus langen Lieblingsliedern wie „Plainsong“ sowie Pop-Singles wie „Just Like Heaven“. Als Live-Act leben The Cure seit spätestens 2010 in einer Goldenen Ära.
Diese Konzertreise ist aus zwei Gründen nur unwesentlich anders als die letzte von 2016, die, an einem besonders düsteren Abend in Leipzig, mit der Wahl Donald Trumps zum POTUS zusammenfiel. Zwar haben The Cure mit „Songs from the Lost World“ ein neues Album aufgenommen, und wie vor sechs Jahren (damals hieß ein Lied noch „It Can Never Be The Same“) streuen sie nicht mehr als zwei bis drei Kostproben davon in ihr Set. Stücke wie „Alone“, „Endsong“ und „And Nothing Is Forever“ orientieren sich am zeitlupenartigen Doom and Gloom, der ozeanischen Schwere ihres vergötterten 1989er-Albums „Disintegration“, vielleicht auch, weil Robert Smith im Herbst seiner Karriere kein Risiko mehr eingehen will. In Berlin spielt die Band acht von zwölf „Disintegration“-Nummern, man kommt sich vor wie in einer Zeitkapsel von eben jenem Wendejahr 1989.
Die Emo-Songtitel des neuen Materials wirken natürlich wie einem Cure-Titelgenerator entnommen, und die Songzeilen erst Recht. Smith singt „The Fire Is Burning Out“, „This Is The End Of Every Song To Sing“ oder „I Wonder What Became Of The Boy Who Called The World His Own“. Aber die drei Lieder stoßen auch in Berlin auf offene Ohren – neue Musik bedeutet neue Energie, und nichts fürchtet die Gemeinde mehr als die periodischen Ankündigungen des Maestros, bald Schluss mit Cure zu machen.
Der zweite Grund, warum die Tournee sich kaum von der davor unterscheidet, liegt in der Setlist. Man kann die Stabilität mögen oder nicht, die Liederauswahl folgt halt, obwohl der Cure-Backkatalog ja seit 2008 nicht geschrumpft ist, einem Muster: Träumereien zu Beginn („Pictures of You“), danach eine flinke Abfolge von traurigen Hits („Lovesong“) und der Beweis, dass sie 1982 mit „Cold“ die unerkannte New-Romantic-Hymne geschrieben haben: „Ice In My Eyes /And Eyes Like Ice Don’t Move“. Bei „Play for Today“ singen die Zuschauer wie seit zwei Jahrzehnten schon die Keyboard-Melodie mit, das tun sie bei keinem anderen Cure-Song – das passiert so seit dem Live-Album „Paris“, als, wie man damals staunend hören konnte, das französische Publikum erstmals auf diese eigentümliche Idee musikalischer Begleitung gekommen war.
Vor der Zugabe die dicken Bretter: „Want“ mit der noch immer besten, einen Nervenzusammenbruch finalisierenden Zeile „I Want Blood Instead Of Rain“, sowie danach „From The Edge Of The Deep Green Sea“. Das sind auch die Songs, die zur jetzigen Cure-Körperlichkeit am besten passen. Die Bandmitglieder sind über 60 und etwas in die Breite gegangen. Bei „Burn“ steht Robert Smith, der Körperkontakt hasst, Schulter an Schulter mit Bassist Simon Gallup. Godzilla versus Kong.
Der unzählige Menschen inspirierende Robert Smith, dem Tim Burton eigentlich für alle seine Filme Tantiemen zahlen müsste, sieht mehr und mehr – im allerfreundlichsten Sinne gemeint! – wie eine zeternde Großmutter aus der Hölle aus. Die Frisur noch grauer, die Stachelhaare noch böser. Entschuldigen Sie, aber jeder Cure-Rezensent muss sich zur Smithschen Optik äußern, das ist Teil der Job Description, man kann das nicht ignorieren. Nur Simon Gallup, der 2016 noch jeden Abend ein Iron-Maiden-Shirt überstreifte, scheint kaum gealtert. Er trägt die Skinny Jeans, weil es noch geht, und macht den Punk, auf seiner Monitor-Box steht: „Bad Wolf“. Wie Courtney Love steigt Gallup manchmal sogar auf die Box ganz vorne. Er ist damit näher am Publikum als sein Chef Smith.
Als Zugaben die Mega-Singles im Schnellfeuer, darunter „Inbetween Days“ und das abschließende „Boys Don’t Cry“, mittlerweile unfassbare 43 Jahre alt. Manierismen müssen bei dieser Cure-Besetzung dennoch ausgehalten werden. Keyboarder Roger O’Donnell intoniert bei „Push“ von hoch nach tief einen Elton-John-artigen Tasten-Swoosh, für den er vor vielleicht 20 Jahren noch rausgeworfen worden wäre. Blickt dabei dennoch zu Smith, als suche er Bestätigung. Und Gitarrist Reeves Gabrels, auf den Smith große Stücke halten muss, weil der dessen Soli zum Teil übernehmen darf („A Night Like This“), quietscht mehr, als dass er fiept, selbst da, wo er fiepen müsste („Fascination Street“). Gabrels quengelt sich mit seinem Instrument etwas zu oft in den Vordergrund. Vielleicht hat Smith auch einen Narren an ihm gefressen, hört seinen Geschichten zu, weil er viele Jahre mit Smiths Idol David Bowie zusammenarbeitete. Gerade für Band-Rückkehrer Perry Bamonte an Gitarre drei bleibt da wenig Raum zur Selbstentfaltung. Gabrels echte Feuerprobe, die Verewigung auf einem Cure-Album, steht derweil noch aus.
Diese 2016er-Zeitreise der „Songs of the Lost World“-Tour enttäuscht keinesfalls, auch, wenn sie nicht überrascht. Die Band spielt jeden Abend mindestens 27 und maximal 28 Songs, also nur noch 28 Songs statt über 30, darunter mit „The Hungry Ghost“ manchmal eines, das sich wohl noch nie ein Zuschauer von Smith gewünscht hat. Aber wer schon in diesem Jahr bei Pearl Jam meckerte, dass es nur noch 24 Songs sind statt über 30, bekam von der Fan-Gemeinde ja gleich einen auf den Deckel: Die Musiker würden schließlich nicht jünger, ne! Eddie Vedder wird bald 60. The Cure jedenfalls sind zum ersten Mal seit den späten 1980er-Jahren wieder zu sechst statt zu fünft auf der Bühne. Und je mehr Leute zur Verfügung stehen, desto mehr können den alternden Leader musikalisch abfedern.
Wie großartig wäre es doch, würden The Cure etwas tun, was sie noch nicht taten, ihre aktuellen Auftritte auch mal mit „Torture“ beginnen oder „All Cats Are Grey“. Oder mal wieder „Harold and Joe“ einstreuen. Oder „The Big Hand“, allein, um ihr im November erscheinendes „Wish“-Reissue zu bewerben. Die Songs beherrschen sie noch, sie proben sie, und sie könnten, anders als die Rolling Stones, ihre Setlisten gehörig durcheinanderwirbeln. Aber The Cure sind seit einigen Jahren schon eine Durch-und-Durch-Rock-Band, der nicht mehr nur eine, sondern mindestens zwei Generationen folgen, eine Rock-Band, die nicht nur hierzulande in immer größeren Hallen spielt. Und die Klientel, die „Friday I’m In Love“ liebt, muss bedient werden, jeden Abend. Fast schon ein Affront, dass The Cure „Why Can’t I Be You?“ bislang außen vor lassen. Wenn man aber vor dem Konzert auf setlist.fm ablesen kann, wie ausgerechnet bei einem Cure-Gig der Zugabenblock exakt abläuft, hinterlässt das ein komisches Gefühl.
Die Spezialisten-Sets gibt es nur noch bei ausgewählten Auftritten, wie vor ein paar Jahren in der Royal Albert Hall, als vor kleinerem Publikum Live-Raritäten dargeboten wurden. Dass The Cure derzeit nur in den Dickschiffen unter den Arenen auftreten, daran ist dennoch nichts Schlechtes. „A Forest“ klang noch nie schlecht. Auf ihren Bühnen scheint dabei das neongrüne Waldlicht. Smith singt: The girl was never there / It’s always the same/ I’m running towards nothing / Again and again and again and again… The-Cure-Konzerte sind immer gut: again and again.