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Eric Pfeils Pop-TagebuchKolumne

Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Eine erregende Wiederbegegnung mit den 70er-Jahre-AOR-Heroen Styx

Tenor in der Arena: Die Songs „Boat On The River“ und „Mr. Roboto“

Folge 242

Neulich im Schallplattenfachgeschäft. Ein junger Mann in seinen Zwanzigern betritt den Laden und wendet sich an den Verkäufer: „Wo finde ich denn Styx?“ – Was das denn noch mal sei, fragt der Händler zurück. – „Ach, das läuft so unter AOR, Adult Oriented Rock.“ – Ah, natürlich, da verfüge man über ein eigenes Fach, AOR laufe derzeit sehr gut.

Während angesichts dieser Information ein Gefühl irritierter Erregung von mir Besitz ergreift, bin ich bereits damit beschäftigt, nach Erinnerungen an irgendwelche Styx-Songs zu kramen und deren mögliche Anziehungskraft auf stilsicher frisierte Nachgeborene zu überprüfen. Ich verlasse überstürzt den Laden, da hier an Konzentration nicht zu denken ist.

Auf dem Heimweg fallen mir dann zwei Lieder aus dem Portfolio der Band ein: „Boat On The River“ und „Mr. Roboto“. Ersteres besaß mein vierzehn Jahre älterer Bruder als Single. Es handelt sich um einen dieser typischen Spätsiebziger-Schlaggitarren-Schunkler, bei denen einem sofort fransige Jeansschlaghosen ans Bein wachsen. Zwar deutet das Mollene des Liedes auf Ungutes hin, aber der Text feiert Fluss und  Boot als Orte der Regeneration, die den Protagonisten des Liedes von den Anfassungen der hektischen Welt zu retten in der Lage sind. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Styx bei Homer das „Wasser des Grauens“ ist. Anders als das Gros des Bandkatalogs wird das Lied, von dem ich meine, es in späteren Jahren auf Ausflügen der Katholischen Jugend am Lagerfeuer vernommen zu haben, von Gitarrist Tommy Shaw gesungen.

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„Mr. Roboto“ wiederum wurde 1983 veröffentlicht und präsentiert die Band in gänzlich neuem, stark vom Hauch der Zeit beatmetem Klanggewand. Es handelt sich um ein dystopisches Lied, das die titelgebende KI bestrickende Lyrik formulieren lässt: „I’m not a robot without emotions, I’m not what you see/ I’ve come to help you with your problems, so we can be free.“ Die Musik klingt wie ein Betriebsausflug einer Queen-Coverband zu „Starlight Express“. Ich kann weder behaupten, dass eines der beiden Stücke heute einen Reiz auf mich ausüben würde, noch erschließt sich mir nach den beiden Liedern die Anziehungskraft der Band auf junge Plattensammler.

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Da ich zu erschöpft bin, um mich weiter durch die Musik von Styx zu hören, schaue ich mir die Videos zu den beiden Songs an, möglicherweise bergen diese ja Hinweise auf den Grund für die Beliebtheit der Band. Im „Boat On The River“- Clip passiert noch weniger als in meinem Fitnesskeller: Die Musiker stehen wallehaarig in der Gegend herum und klampfen sich einen zurecht.

Auch das Video zu „Mr. Roboto“ ist nicht eben dazu angetan, sich für samstägliche Ausgeh-Abende in Stimmung zu bringen, beginnt es doch mit sehr langatmigem Robotergehampel. Dann aber betritt Sänger Dennis DeYoung die Szene, und mit seinem Aufkreuzen wird denn auch schlagartig klar, was die jungen Menschen so an Styx faszinieren muss: Der Mann ist das Charisma auf Stelzen und drückt in punkto Theatralik massiv auf die Tube: DeYoung agiert in dem Clip stellenweise wie ein Musical-Star auf allen Drogen gleichzeitig – und singt auch so. Der Mann aus Chicago ist der Heldentenor in der weiten AOR-Arena. Es scheint nur zu verständlich, dass in Zeiten eines zunehmend entmenschlichten Showgeschäfts junge Menschen Halt bei Bühnentitanen von DeYoungs Kaliber suchen – und finden.

Auch die tiefere Beschäftigung mit dem Mann scheint sich zu lohnen: Ab 1993 spielte DeYoung 268-mal den Pontius Pilatus in einer „Jesus Christ Superstar“-Inszenierung. Später schrieb er gar noch eine eigene Musical-Version des „Glöckners von Notre-Dame“. Mehr Rockstars sollten seinem Beispiel folgen.

Am nächsten Tag stehe ich in einem anderen Plattenladen. Nunmehr dank meiner Begegnung mit DeYoung ebenfalls für die Band entflammt, schaue ich auch beim Styx-Fach vorbei. Und siehe da: Es ist gähnend leer! Leerer, als das Wasser des Grauens tief ist. Hier können nur noch die AOR-Philosophen von REO Speedwagon weiterhelfen: „You can tune a piano, but you can’t tuna fish.“

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