Kritik: Jochen Distelmeyer in Berlin – Stoppt mich, falls ihr das schon mal gehört habt!
Endlich: Jochiboy präsentiert live neue Songs
Jochen Distelmeyer tritt als „Jochen Distelmeyer“ auf, nicht als „Blumfeld“, und was sagt es über ihn aus, wenn er ein Konzert geben kann, ein sensationelles Konzert, und auf die Darbietung auch nur eines einzigen Songs seiner ersten drei Blumfeld-Alben, den Blumfeld-Blumfeld-Alben, den „Meilenstein-Platten“, verzichtet? Dass er sehr viele Lieder mehr hat. Und alle sind Hits. Die ersten zehn Jahre der Diskographie wegzulassen, wer kann sich das erlauben? Depeche Mode vielleicht. Distelmeyer lässt „Verstärker“ weg, er lässt „Tausend Tränen Tief“ weg, und er lässt „So lebe ich“ weg.
Als „Erotik-Album“, mindestens als Anbagger-Album wurde Distelmeyers aktuelles Werk „Gefühlte Wahrheiten“ von vielen Menschen, die nur einmal reingehört haben, rezipiert, und tatsächlich atmen viele dieser Lieder den Marvin-Gaye-Geist der Siebziger, als noch all das, was der Erzähler sich im Song wünscht, in Ordnung war. In Wirklichkeit aber sind die Lieder auf Augenhöhe mit dem, um den es geht, geschrieben.
Die Übertragung dieser Soul-Stücke funktioniert an diesem Abend im Berliner „Hole44“, am zweiten Abend der Tournee, ausgezeichnet. „Tanz mit mir“, das Lied mit dem „Sexappeal“, läuft wie geschmiert (unzweideutig gemeint), und Distelmeyer intoniert am Ende einen Teaser von Eden Ahbez‘ „Nature Boy“. Distelmeyer spielt – erstmals in seiner Bühnenlaufbahn? – während eines Konzerts durchgängig keine elektrische, sondern eine Akustik-Gitarre, und er haut den Beat auf dem Gitarrenbauch mit. Er ist ein Soul-Sänger.
Seine Band ist so gut wie Blumfeld, auch wenn Blumfeld sich auf eine konstante Besetzung ab Ende der 1990er-Jahre nicht festnageln ließen, von 1992 bis heute hat es fünf verschiedene Blumfeld-Musiker an Distelmeyers Seite gegeben, dazu ergänzende Live-Musiker. Zur aktuellen Jochen-Distelmeyer-Band gehört ein Leadgitarrist, der wie ein deutlich agilerer Michael Mühlhaus wirkt, sowie der Blumfeld-Live-Keyboarder Daniel Florey, der sich aus Solidarität zum Bassisten eine Trucker-Käppi aufgesetzt hat, auf dass beide wie Mark Forster aussehen. „Anders als Glücklich“ hat in dieser Konstellation zu wenig Schwof, das eh schon schwofige „Sonntag“ leider noch mehr Schwof als auf Platte. Erstaunlich, dass Distelmeyer kein einziges seiner drei englischsprachigen Country-Songs von „Gefühlte Wahrheiten“ anstimmt.
„Lass uns Liebe sein“ gehört endlich zur Setlist, längst überfällig, die Single aus seinem Solodebüt „Heavy“ ist der beste Song des 2009er-Albums. „Ich sing für Dich“, der letzte Song vor der Zugabe, ist ein seltsames Biest. Das – etwas unfair – als Peter-Maffay-Hommage rezipierte Lied bietet unzählige Gemeinplätze: „Ich sing für dich, wenn du nicht weißt, wo deine Leute sind.“ Aber das ist Distelmeyers Kunststück: „Ich sing für Dich“ könnte von den falschen Leuten gehört werden, Stichwort Tribalismus, es wird bislang aber ausschließlich von den richtigen Leuten gehört. Distelmeyer hat eine treue Gemeinde. Sie ist auch im „Hole“ versammelt, es sind die Leute, die schon die Hamburger Schule liebten. Man erkennt sich.
„Testament der Angst“ ist nicht sein bestes, aber sein wichtigstes Album, es erschien in einem politisch aufgewühlten Jahr 2001, Distelmeyer spielt drei Songs daraus: „Graue Wolken“ endlich wieder, und zum Glück die zwei Monolithen „Eintragung ins Nichts“ und „Anders als Glücklich“. „Eintragung ins Nichts“ versetzt Distelmeyer mit einem Zitat des Smiths-Lieds „Stop Me If You Think You’ve Heard This One Before“. Ein cleveres Spiel mit den Erwartungen der Menschen, die im Blumfeld-Kopf schon immer einen Prediger vermutet haben, der uns wiederholt sagen will, wie schlecht es eigentlich um die Welt steht: „Stoppt mich, falls ihr das schon mal gehört habt!“ „Eintragung ins Nichts“ endet mit der brutalen existenzialistischen Prognose: „Wir kommen ungefragt und gehen ungefragt“, und wie immer mit dem Live-Add-On: „So sieht’s aus, Leute!“.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich bei „Anders als Glücklich“ verhört habe, aber es wäre zu schön, wenn nicht. Das Stück handelt wohl von einem verunsicherten Erzähler, der zu Psychopharmaka greifen möchte, weil er die Menschheit nicht mehr versteht, seine Ängste offen gesteht, und sich auch im Rückzug wünscht, dass die Herrschenden untergehen. Am Ende der Live-Version sagt Distelmeyer ein Wort, das, wenn ich es richtig gehört habe, wie „Covfefe“ klang. „Covfefe“, jenes mysteriöse Wort, das jedem halbwegs vernünftigen Menschen, nicht nur in den USA, zwischen 2016 und 2020 mehr Angst gemacht haben dürfte als alles andere. Manche sagen, dass Jochen Distelmeyer keine politischen Songs mehr schreibt, und sie bemängeln das. Aber er nimmt alles mit, was um uns passiert. „Covfefe“ ist alles, was wir dazu wissen müssen.