Rio Reiser: Platzhirsch im Hipster-Viertel – Kreuzberger Straße nach ihm benannt
Der Berliner Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg ehrt den Sänger und Songschreiber mit einem Straßenschild. Ministerin Roth laudatiert ehemaligem Schützling
Der legendäre Live-Club S036 liegt gleich nebenan; gegenüber der Touristen- und Hipster-Treff Bateau D’Ivre. Die nicht immer zuverlässige Buslinie M29 steuerte hier die Haltestelle Heinrichplatz an. Bis vorgestern.
Ziemlich genau 26 Jahre nach dem Tod des Sängers und Songschreibers der Berliner Band Ton Steine Scherben musste der „Heinrich“ am Wochenende weichen. Rio Reiser ist nun der neue Kreuzberger Platzhirsch.
Unter Anwesenheit von Kultur-Staatsministerin Claudia Roth (welche die späten Scherben einst als Bandmanagerin betreute) wurde der Szene-geschichtlich relevante Platz am gestrigen Sonntag (21. August) offiziell umbenannt.
In einer Feierlichkeit mit ortstypischer Atmo des ehemaligen Postzustellbezirks S036, zu der sich im Tagesverlauf mehrere Tausend Leute einfanden, gab es Live-Musik und die Kiez-notorischen Motzereien „über die Polit-Bonzen da oben“.
Der 1950 in Berlin geborene Rio Reiser hieß bürgerlich Ralph Christian Möbius. Er verstarb nach einer sehr erfolgreichen Solo-Karriere („König von Deutschland“) im August 1996 mit nur 46 Jahren. Der in West-Berliner Zeiten im hintersten Eck liegende Teil von Kreuzberg, mit überkommener Bausubstanz und im Winter sensationell kalten Wohnungen, war Schauplatz verbissen geführter Straßenkämpfer. Der „Rauch-Haus-Song“ (1972) von Ton Steine Scherben thematisiert etwa eine Hausbesetzung am benachbarten Mariannenplatz. Der Anarchist Georg von Rauch wurde im Dezember 1971 von der Polizei im Stadtteil Schöneberg im Rahmen einer Fahndung erschossen.
Von Rauch gilt als der erste Prä-RAF-Tote in der alten Bundesrepublik.
Mit seinem gewaltsamen Tod radikalisierte sich die in (West-)Berlin nicht kleine militante Szene immer weiter. Ab Ende der 1970er kam es dann zu massiven Straßenschlachten, bei denen oftmals „Wannen“ (Einsatz-Kastenwagen) in Flammen aufgingen und die Straßen mit Wackersteinen und Molotow-Cocktail-Resten übersät waren wie in Belfast oder Londonderry.
Ton Steine Scherben und Rio Reiser sorgten mit ihren Songs für den amtlichen Soundtrack dieser wild-derben Ära. Dass es nun, nach dem Marsch durch die Institutionen vieler links-alternativen 1968er, nun zu einer Ehrung von „ganz oben“ kommt, darf man „Ironie des Schicksals“ nennen.
Liegt doch der neue Rio Reiser Platz inmitten einem von massiver Gentrifizierung mit abenteuerlichen Mietsteigerungen für Wohn- und Gewerbeflächen gebeutelten Kiez.
Die dort vertretene Erbengeneration in veganen Turnschuhen will vom Scherben-Chant „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ eher nichts wissen. Die House-Music-Hymne „Only The Strong Survive“ ist längst der passendere Slogan für Kreuzberg Süd/Ost.
Claudia Roth droppte bei ihrer Ansprache die Rnden-Binse: „Für Rio war das Private immer politisch“. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob ein heutiger Rio Reiser angesichts der neuen „Kreuzberger Verhältnisse“ mit einer derartigen Würdigung glücklich wäre.
„Obwohl der Bezirk in erster Linie Frauennamen zur Benennung von Straßen annimmt, wird für Rio Reiser als Person mit einem LSBTQ-Hintergrund die Ehrung dennoch möglich“, heißt es in einer Stellungnahme des Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksmuseums.