David Bowie: „Ziggy Stardust“ – die ROLLING-STONE-Titelstory
Bowie schoss den berühmtesten Außerirdischen des Pop nach einem Jahr zum Mond. Doch sein Einfluss auf die Popwelt ist ungebrochen
Die Zugaben der letzten Konzerte seines Lebens widmete David Bowie einer Person, die ihm vertrauter war als jede andere. Eine, die er liebte, aber auch eine, die er einst von sich stoßen musste. Das Ritual bei diesen Auftritten war stets dasselbe: Vor dem Schlusslied hielt Bowie sich die Wangen, ging ans Mikro und ahmte das Schluchzen zu Tode betrübter Anhänger nach: „Why did you kill Ziggy?“ – „Warum hast Du Ziggy umgebracht?“ Das war im Juni 2004, und diese Frage verfolgte ihn da schon seit mehr als 30 Jahren. Das Entsetzen der Fans muss Bowie beschäftigt haben, auch, wenn die weinerliche Theatralik vor den ersten, dann einsetzenden Akkorden von „Ziggy Stardust“ vor allem seine Belustigung über dieses Entsetzen zum Ausdruck bringen sollte. Denn Ziggy war er selbst, und er lebte ja weiter, glücklich, ohne ihn.
Wer war Ziggy Stardust? Warum wurde Bowie ihn nie los – und weshalb ist das gut so? Wie kommt es, dass eine Kunstfigur, deren Ende er am 3. Juli 1973 auf einer Londoner Bühne verkündete, einfach weiterlebt?
Wir erkennen Ziggy in anderen Musikerinnen und Musikern, in Harry Styles, Miley Cyrus, Arcade Fire und St. Vincent, auch in älteren Helden, von denen einige noch leben, wie Boy George oder Aerosmith-Sänger Steven Tyler, sowie in anderen, die schon tot sind, Kurt Cobain und Prince. Wir sehen Ziggy aber nicht nur in Prominenten. Wir sehen ihn auch in Menschen unseres Alltags, die – noch immer vorherrschende – Vorstellungen brechen, wie Männer, Frauen oder Nichtbinäre sich zu kleiden oder wen sie zu lieben haben. Wer sie zu sein haben.
Harry Styles trägt Perlenketten und Röcke, Prince trug Strapse – David Bowie war mit Cross-Dressing lange vor ihnen dran. Boy George feierte in den 1980er-Jahren sein Coming-out – Bowie sagte 1972 „I‘m gay“, als erster Popmusiker: „Ich bin schwul und bin es immer gewesen, selbst als ich noch David Jones war.“ Sein Coming-out nahm David Jones, wie Bowie wirklich hieß, später zurück. Aber er nahm auch diese Rücknahme wieder zurück. Er war also alles, nacheinander, hetero, schwul und bisexuell, aber vielleicht war er das alles auch gleichzeitig – weil diese Kategorisierungen sowieso egal sind. Formal folgte er bürgerlichen Konventionen, ehelichte eine Frau, Angie Bowie, mit der er von 1970 bis 1980 verheiratet war, führte mit ihr jedoch eine offene Beziehung. Ambiguität kultivierte Bowie bis an sein Lebensende.
Für Madonna war er der „Game Changer“, Lady Gaga sagte „Meine ganze Karriere ist ein Tribut an David Bowie“ und schminkte ihr Gesicht mit dem Ziggy-Blitz. Transgender-Schauspiel-Star Laverne Cox schrieb nach seinem Tod 2016: „Es ist unmöglich, Bowies Wichtigkeit für unsere Kultur und Musik zu quantifizieren.“ Ziggy war ein Rollenmodell und ist es bis zum heutigen Tag. Dabei existierte er für gerade mal zehn Monate, von Juni 1972 bis April 1973. Bowie hatte seine eigene Persona, die Bühnenfigur unterschätzt. Die Ironie besteht darin, dass Ziggys Popularität wuchs, gerade weil Bowie sich seiner entledigte. Alle wünschen sich heute, sie wären damals dabei gewesen und hätten ihn gesehen. Ziggy konnte gar nicht erst anfangen zu langweilen, da Bowie dessen Abgang auf dem Höhepunkt seines Erfolgs bekanntgab, bei einem Auftritt im Hammersmith Odeon, im Zuge der Konzertreise für seine LPs „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ und „Aladdin Sane“.
„Von allen Konzerten“, verkündete er auf der Bühne in London, „wird dieses hier am längsten in unserer Erinnerung bleiben. Denn dies ist nicht nur das letzte Konzert der Tour – es ist das letzte, das wir jemals geben werden. Danke.“ Ziggys im Trauertonfall proklamiertes Ende war eine beispiellose Maßnahme, weil sie so wirkte, als sei Bowies Kreativität zum Erliegen gekommen. Dabei dokumentierte sie das exakte Gegenteil: ein Selbstvertrauen in die künstlerische Weiterentwicklung – in eine Richtung, von der Bowie selbst noch nicht wusste, wie sie aussehen würde. Keiner konnte ahnen, dass noch einige herausragende Jahre vor ihm liegen würden.
Wie sah ein Rollenmodell aus, das 1972 geboren wurde? Schauen wir uns Ziggy Stardust genauer an. Die erste Idee kam Bowie anscheinend aus dem Nichts. Während einer Hotelzimmerparty stand er unvermittelt vom Bett auf, ließ seinen verdutzten Gesprächspartner links liegen und marschierte ins Badezimmer. Als er wieder rauskam, fehlten ihm die Augenbrauen – die hatte er sich abrasiert. Danach ließ er sich hauteng anliegende, regenbogenfarbene Weltraum-Einteiler schneidern, inspiriert vom Glam-Rock-Style, insbesondere dem seines Freundes – und Rivalen – Marc Bolan, Sänger von T.Rex. Feminine Kleidung fand er toll, mit Röcken allerdings war David Bowie durch. Für das Cover von „The Man Who Sold The World“ trug er bereits 1970 einen – auch, wenn ihm eine Einschränkung erstaunlicherweise wichtig war: „Es ist kein Damen-, sondern ein Herren-Rock!“. Dann kam der Kopf dran: Bowie ließ sich einen Mullet-Haarschnitt verpassen, der so neu war, dass die Frisur – hierzulande später berüchtigt als Vorne-kurz-hinten-lang („Vokuhila“) – als „Ziggy Cut“ Furore machte; die Haarfarbe taufte er Red Hot Red. Das Gesicht war geweißt, und auf die Stirn ließ er sich einen „Astral Sphere“-Kreis malen, auch „Love Jewel“ genannt, der an eine goldene Münze oder das hinduistische Dritte Auge erinnerte.
Ziggy sah nicht mehr aus wie David Bowie. Wer war das da – und wie muss er 1972 auf Menschen gewirkt haben? Ziggy erschien antik und jenseitig und gleichzeitig futuristisch. Wie ein Alien, das vor tausenden Jahren von seinen Gefährten bei den Pharaonen zurückgelassen wurde. Unansehnlich? Viele sagten: wunderschön. Ziggy weckte das Verlangen, mehr zu sein, als man bisher war.
David Bowie wirkte auf viele Eltern wie ein Mann, den sie noch nie gesehen hatten, also zum Fürchten, vielleicht satanisch. Und auch auf deren Nachwuchs wirkte er wie ein Mann, den sie noch nie gesehen hatten – aber einen, den sie unbedingt in ihrem Leben haben wollten. Anders als Zeitgenossen wie Alice Cooper oder ein Jahr nach Ziggy die maskierten New Yorker von Kiss, betonte Bowie nie, dass er privat anders sei als seine Kunstfigur. Er tat vielmehr so, als wäre er auch abseits der Bühne dieses Wesen aus einer anderen Welt. Und im Gegensatz zu den Hard-Rockern nutzte er auf der Bühne auch keine Feuereffekte oder ließ Monsterpuppen aufmarschieren. Das Gimmick der Show erschien harmlos: unzählige, von der Decke herunterwehende Ziggy-Fotos, unterschrieben mit einer Songzeile aus „Suffragette City“, die wiederum einem Lied von Charles Mingus entnommen ist – „Wham, bam, thank you, Ma’m.“
Es gibt viele Menschen, die Ziggy heißen, der bekannteste lebende ist wahrscheinlich Ziggy Marley. Aber der berühmteste Ziggy ist der von Bowie, ein ausgedachter. Namenspaten waren Iggy Pop sowie Norman Carl Odam alias Legendary Stardust Cowboy, dessen Sci-Fi-Song „I Took a Trip (on a Gemini Space Ship)“ Bowie bewunderte und 2001 für sein „Heathen“-Album einspielen sollte. Noch wichtiger als Ziggy Stardusts Aussehen und Namensgenese jedoch waren seine Biografie und sexuelle Identität. Er ist ein bisexueller Außerirdischer, ein „Infinite“ („Unendlicher“), der nach seiner Reise durch ein Schwarzes Loch auf der Erde landet und als Rockstar Karriere macht. Er adaptiert unsere Gebrechen, um als sterblicher, suchtanfälliger Mensch zu demonstrieren, dass man an Ruhm zugrunde gehen kann; das Scheitern des Aliens an irdischen Lebensbedingungen, den Kontrollverlust durch Süchte griff er drei Jahre später als Hauptdarsteller von Nicolas Roegs „Der Mann, der vom Himmel fiel“ wieder auf. Das ist aber noch nicht alles: Ziggy erhält nach seiner Landung im Greenwich Village außerdem den Auftrag, unseren Planeten zu retten.
Das sind sehr viele Informationen. Durch die Songtexte lassen sie sich keinesfalls verstehen, Bowie musste seine Ideen bis zu zwei Jahre danach noch in Interviews erklären. Ein ROLLING-STONE-Gespräch von 1974, in dem es auch um die „Infinites“ ging, brachte keine Erhellung – erwartungsgemäß, denn darin interviewte Bowie sich gegenseitig mit William S. Burroughs. So wie „Sgt. Pepper“ der Beatles ist auch „Ziggy Stardust“ ein Konzeptalbum, dessen Songs zum Glück größer sind als das Konzept, und dessen Handlungsbogen sich nicht vom ersten bis zum letzten Lied zu erschließen braucht.
Mit einem Bein im Grab, dem anderen in der Zukunft
Der junge Bowie hörte jedoch nicht nur progressive Musiker, sondern auch Rock’n’Roller wie Vince Taylor und Gene Vincent, die weit größere Spuren in seinen Aufnahmen hinterließen. Sein Biograf Mark Spitz schreibt, jeder, bei dem er Anleihen machte, „schien mit einem Bein im Grab und mit dem anderen in der Zukunft zu stehen.“ Was war 1972 die Zukunft der Musik? „Ziggy Stardust“ war es erstaunlicherweise nicht. Mick Ronson intonierte in „Moonage Daydream“ zwar eine Gitarre, die kreischende Laserstrahlen zu verschießen schien, Bowie singt „Keep your `lectric eye on me, babe / put your ray gun to my head“, aber die anderen zehn Stücke sind kommandiert durch Glam-Rock. Neue Musik klang anders. Elektronische Kompositionen existierten längst; und hippe Gruppen wie die New York Dolls oder die Stooges, die Band des von Bowie verehrten Iggy Pop, komponierten Proto-Punk. Deren Lieder waren schnelle Eruptionen voller vermeintlich primitiver Gewaltfantasien und Anarchie.
Das zweite Ziggy-Album, „Aladdin Sane“ aus dem Folgejahr, würde experimenteller sein als „Ziggy Stardust“, dank der Jazz-, Cabaret- und Klassik-Tupfer des neu angeheuerten Pianisten Mike Garson. Zur originalen Begleitband Spiders from Mars (deren extraterrestrische Herkunft war also im Gegensatz zu Ziggys geklärt) gehörten neben Gitarrist Ronson noch Bassist Trevor Bolder sowie Drummer Mick Woodmansey, der das Namensrecht der Gruppe für sich deklamiert; dass Bowie es weder für nötig hielt, eigenmächtig seinem Trio einem Bandnamen zu geben, noch die einzelnen Mitglieder zu Fantasy-Pseudonymen zu verpflichten, spricht entweder für locker gehaltene Zügel oder Desinteresse.
Bowie bezeichnete die drei Jahre vor „Ziggy Stardust“ verstorbene Judy Garland als sein Idol, auch das erschien damals unerhört. Ein männlicher Rockstar nimmt eine Schauspielerin, eine Frau, zum Vorbild? Nicht nur das, er schrieb für „Ziggy Stardust“ auch eine Hommage an Garland, die zu einem seiner größten Erfolge werden sollte. „Wir hören keine Single“, lautet jener bis heute von Künstlern gefürchtete Labelmanager-Kommentar, den auch Bowie sich anhören musste, als er seine neue Platte vorstellte. Also fügte er „Starman“ der Trackliste hinzu, inspiriert von „Over the Rainbow“. Die Harold-Arlen-Melodie sang Judy Garland als 16-Jährige für den „Zauberer von Oz“ ein.
Ziggy und seine Spiders from Mars betraten die Bühne stets zum gleichen Einspieler, „Ode an die Freude“, aber nicht in Beethovens Arrangement, sondern in der panischen Moog-Version von Wendy Carlos aus „Uhrwerk Orange“. Das Publikum wurde dabei mit Stroboskop-Lichtern traktiert – als müsste es mit einer neuartigen Methode konditioniert werden, wie der Mörder Alex DeLarge in Anthony Burgess’ dystopischer Erzählung. Bowie kannte sich mit neuer Musik also aus, vor allem erkannte er 1971 die Relevanz der Verfilmung Stanley Kubricks: Für ihn waren die Spiders from Mars wie die Droogs, eine Clique gewalttätiger Jugendlicher, die doch nur so verkommen ist, wie die Gesellschaft, die sie herangezüchtet hat. „Dies ist keine Welt mehr für einen alten Mann“, stammelt im Film ein Obdachloser, bevor er vom Oberdrooge Alex und seiner Gang verprügelt wird.
Die jungen Männer aber waren nicht zu beneiden. Dies ist die Welt, in die Bowie seinen Ziggy zu Beginn der 1970er pflanzte: Die Beatles trennten sich, Richard Nixon musste wegen der Watergate-Affäre zurücktreten, die Mond-Missionen fanden mit Apollo 17 ihr Ende, in München und dem Nahen Osten gab es Terroranschläge, und seit Charles Manson und Altamont war der Traum der Hippies ausgeträumt. Love and Peace war vorbei, die Welt wirkte gewaltbereiter, radikaler.
Er singt schlicht: „Ziggy Played Guitar“
Als der „Starman“ auf der Erde ankommt, verkündet er sogleich im Auftaktstück der Platte, „Five Years“, dass der Menschheit nur noch fünf Jahre bis zur Apokalypse blieben. Ziggy war die Personifizierung des Scheiterns, weil dieser messianische Außerirdische, der uns das Recht geben wollte, zu lieben, wen wir wollen, dem Leben als einfacher Mensch nicht gewachsen war, geschweige denn dem als Celebrity. Auf halber Höhe des Albums wird der „Starman“ im Song „Star“ endlich zum Star, aber Ziggy kapituliert – auch vor der Feindseligkeit seiner Spiders, die ihn beneiden und sich fragen: „So we bitched about his fans / and should we crush his sweet hands?“. Die Schlusszeile von „Ziggy Stardust“, jene, mit der Bowie auch seine finalen Konzerte 2004 beendete, erklingt wie ein Nachruf, aber ein äußerst bescheidener. Er verzichtet auf die Würdigung einer Lebensleistung, erbracht immerhin vom ersten Alien, das je auf unseren Boden plumpste. Er singt schlicht: „Ziggy Played Guitar“. Dem traurigen Ende Ziggys wäre Bowie an jenem Abend fast sehr nahe gekommen: Wenige Minuten nach Ende seines Auftritts beim Hurricane Festival brach Bowie zusammen, er hatte es noch in den Backstage-Bereich geschafft. Per Hubschrauber wurde er in ein Krankenhaus nach Hannover gebracht, die Arterie am Herzen war blockiert.
Der britische Ex-Punk Billy Idol, der mit seiner Band Generation X das London der Spätsiebziger aufmischte, gab zu Protokoll: „Bowie inspirierte uns dazu, jenseits der Norm zu agieren, und die Leere, die sich im England jenes Jahrzehnts breit machte, mit unseren eigenen Kunstformen auszufüllen.“ 1972 gab es in England den ersten Bergarbeiterstreik. Der Journalist Christopher Zara schreibt, London sah in jenem Jahr aus „wie die Bakerloo Line der Underground – alles war braun wie Bakelit, und es war dunkel, selbst wenn die Stadt hell erleuchtet war.“ Inflation und Arbeitslosigkeit nahmen zu. Es kam zu regelmäßigen Stromausfällen, einer Drei-Tage-Arbeitswoche – weite Teile Londons hatten täglich mehrere Stunden keinen Strom. „Ziggy war also buchstäblich ein Kind der Dunkelheit“, wie Biograf Spitz schreibt.
Das britische Fernsehen sendete überwiegend in Schwarzweiß. Bowies Auftritt in der Musiksendung „Top of the Pops“ mit „Starman“ jedoch war in Farbe. Der knallbunte Ziggy in Farbe. 13 Millionen Zuschauer.
Und Bowie, der Erfinder dieses Kindes der Dunkelheit, das auf Millionen Bildschirmen so hell erstrahlen konnte, wirkte authentisch – denn der 25-Jährige war keineswegs reich. Seine Popularität nahm nach der UK-Nummer-eins-Single „Space Oddity“, die 1969 im Jahr der ersten Mondlandung erschien, schnell wieder ab. „The Man Who Sold the World“ war ein Flop, „Hunky Dory“ von 1971 zwar ein gefeiertes Album, aber heute viel geliebte Auskopplungen wie „Changes“ gelangten damals nicht in die Charts.
Der bärtigen, betont männlichen Musik der Sechzigerjahre-Männer, der Eagles, The Band und Doors, stellte Bowie nun diesen geschminkten, geschlechtslosen Ziggy entgegen. Man kann fast sagen, dass er die Siebzigerjahre mit dieser Figur erfand, zwei Jahre nach ihrem offiziellen Beginn. Während der „Ziggy“-Tour schoss der Fotograf Mick Rock eines der berühmtesten Fotos der Musikgeschichte, eines, in dem natürlich eine Gitarre im Vordergrund steht. Anders aber als Jim Hendrix, der seine Fender Stratocaster auf der Bühne in Flammen aufgehen ließ, behandelte Bowie das Instrument zärtlich, band es in einen simulierten Geschlechtsakt ein. Er kniete sich vor Mick Ronson hin, umfasste dessen Hintern und knabberte an den Saiten seiner Gitarre herum – er stellte einen Blowjob nach. Das Bild funktionierte, und es schockierte auch manche Betrachter. Die Paarung des androgynen, dürren Ziggys mit dem muskulösen Ex-Mechaniker ließ dieses Spiel wie eine sexuelle Machtfantasie erscheinen. Ein vor Publikum nachgestellter homosexueller Akt, im Jahr 1972.
„Mick, hast Du das? Hast Du das?“
Fotograf Rock würde einige der bekanntesten Bowie-Porträts schießen. „David hatte diese unglaublichen Gesichtszüge“, erinnerte er sich. „Einen sehr mageren Körperbau. Er wirkte auf Fotos einzigartig und sexy. Jeder war begeistert von ihm, Jungs und Mädchen und alle dazwischen.“ Bowie sagte später, das Fellatio-Foto sei doch harmlos. Er habe nur spontan versucht, in Ronsons Gitarre zu beißen. Aber er wusste sofort, welche Legende er auf der Bühne in Oxford Town schuf. Direkt nach der Show rannte er zu seinem Fotografen: „Mick, hast Du das? Hast Du das?“
Es ist ein überstrapazierter Begriff: „Pionier“. Und je mehr Jahrzehnte verstreichen, desto mehr Pioniere werden in der Pophistorie aufgespürt. Aber das war David Bowie: ein Pionier. Umso bemerkenswerter, dass keiner seiner Songs zu einer LGBTQ-Hymne geworden ist. Offensichtliche Adressierungen einer gleichgeschlechtlichen Liebe allein per Titel, wie zum Beispiel Jahrzehnte später Katy Perry mit „I Kissed A Girl“, haben ihn nicht interessiert. Der queere R&B-Musiker Frank Ocean singt in „Comme des Garçons“ die Zeile „All this drillin‘ got the dick feelin‘ like a power tool“, was mit der Erwähnung eines „dick“, des Penis, etwas direkter ist als Bowies einstige Aufforderung in „Moonage Daydream“, der Alien möge seine „Strahlenpistole“ auf ihn richten. „Ziggy Stardust“ ist ein Album mit Anspielungen, es enthält aber keine echten Anspielungen auf die sexuelle Identität, weder die des Interpreten noch die dessen Gegenübers, mit dem Ziggy oder Bowie gerne in die Kiste springen würden – unabhängig davon, dass man für Ziggy das Spektrum wohl um „interplanetarischer Sexpartner“ hätte erweitern müssen.
Dennoch sollte man nicht vergessen, dass Bowie mit den Aufnahmen der „Ziggy“-Stücke schon ein knappes Jahr vor Albumerscheinen begann, im Juli 1971. Sein Leben lebte er da schon so, wie er wollte. Aber den multisexuellen Spaceman gab es noch nicht. Ziggy sang damit auch Lieder, die nicht mit Ziggy selbst im Hintersinn komponiert wurden; „Hang On To Yourself“ und „Moonage Daydream“ waren sogar schon vor Erscheinen der Platte bekannt, wurden im Mai 1971 erstveröffentlicht. Mit „John, I’m Only Dancing“ brachte Bowie erst nach „Ziggy Stardust“ eine Single heraus, die gleichgeschlechtliche Vorlieben offenbart. Darin versichert er seinem Partner, sich keine Sorgen machen zu müssen – er tanze mit der Frau, mehr nicht.
Mit einer Mischung aus Faszination und Furcht blickte die Presse auf David Bowie, der Männer wie Frauen begehrte. 17 Monate dauerte die Tournee, er trat aber lediglich in Großbritannien auf, den USA und Japan. Nur in den Südstaaten Amerikas gab es vereinzelt Proteste gegen diesen „schwulen Sänger“, der wahrscheinlich auch ein Kommunist sei. Angeblich wurden die Demonstrationen vom Klu-Klux-Klan gesteuert. Weltweit wurden Ziggy und seine Spiders von 120.000 Menschen gesehen, eine für damalige Verhältnisse phänomenale Zahl.
John Lydon, später Sänger der Sex Pistols, sah Bowie live, und er bewunderte dessen, wie er es nannte, „Ich-bin-schwul-Schiene“. Er sei zu einem Helden geworden, aber nicht nur für Menschen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Identität wie Ausgeschlossene fühlten, sondern auch für ökonomisch Unterprivilegierte. „Die Arbeiterklasse mochte ihn wegen dieser Unerschrockenheit, weil er geradewegs damit rauskam. Er stellte sich der Welt: ‚So bin ich und fickt euch!‘“ Bowie, der zeit seines Lebens keine einzigen Punk-Song aufnehmen sollte, wurde zum Leitstern der Punks. Auch die Bildende Künstlerin Tracy Emin, für ihre Darstellungen von Sexualität, sexueller Gewalt und Pornografie ebenso gefeiert wie gefürchtet, wurde in jungen Jahren von Bowie beeinflusst. Durch ihn fing sie in den 1970er-Jahren an Kunst zu entdecken, die verunsichert. „Er sorgte dafür, dass ich mich selbst sexy fühlte. Durch ihn konnten sich Outsider wie Insider fühlen, man hatte das Gefühl, man mache es schon richtig.“
Nur der Meister hatte irgendwann genug von seiner Figur. „Als ich an ‚Aladdin Sane‘ arbeitete“, sagte Bowie, „wusste ich schon, dass aus der ganzen Idee die Luft raus war.“ Er sprach vom Zwang, Erwartungen erfüllen zu müssen – die seiner Hörer, die seines Managements. „Das war eine harte Zeit, und ich spürte, zum ersten und einzigen Mal, dass ich für jemand anderen arbeitete.“ Marc Bolan und Mick Ronson machten nach 1973 weiter Glam. Bowie ließ los. Seine Plattenfirma ließ noch nicht los, veröffentlichte die folgenden zwei Alben „Pin Ups“ und „Diamond Dogs“ mit Ziggy-Cover, obwohl Ziggy längst zu Grabe getragen war – und bei „Diamond Dogs“ fehl am Platz ist, da dieses Konzeptalbum einen Orwellschen Überwachungsstaat behandelt, also einen menschengemachten, weltlichen, keinen, in dem „Infinites“ und Schwarze Löcher vorkommen.
Ziggy bereitete Bowie vielleicht auch Angst, gerade weil die Menschen in ihm ein Lebewesen sahen, das tatsächlich existiert. Sein Groupie Josette Caruso erinnerte sich daran, dass Bowie eines Nachts auf Tournee ein „noch warmer“ Leichnam angeboten wurde, zum Sex. Der Sänger war schockiert, „weiß wie eine Wand.“ Bowie glaubte dennoch, die Kontrolle behalten zu haben: „Ziggy war ein Monster. Aber er war mein Monster.“
Er hatte Vertrauen in seinen Weg, von dem er eben nicht wissen wollte, wohin er führen könnte. „Das ganze Ziggy-Stardust-Phänomen war außer Kontrolle geraten“, erinnerte sich Bowie. „Mein Erfolg wurde immer haarsträubender. Ganz ehrlich – alles, was ich mit klassischem Rock and Roll vorgehabt hatte, war ausgeschöpft.“
Er würde andere Persönlichkeiten erfinden. Er wandte sich als „Plastic Soul“-Sänger dem Phillysound zu. Wurde danach zum Thin White Duke. In seinem erfolgreichsten Jahr, 1983, war er mit „Let’s Dance“ ein Funkmusiker. Und zwei Tage vor seinem Tod 2016, verabschiedete er sich als Mysterium, mit „Blackstar“ – jenes als Abschlussalbum geplante Werk, dessen Texte und Lieder, ja sogar Plattenhülle und Booklet bis heute nicht vollständig entziffert sind.
Das war ganz in David Bowies Sinne. Auch, weil er sich nicht deuten ließ, ist er unsterblich geworden. Viele Gedanken kreisen um ihn, und sie kreisen auch um Ziggy Stardust. Gerade in denjenigen Menschen, die ihn und seinen Mut zum Vorbild nehmen.