Kriminal-Biologe Mark Benecke über Theorien zum Tod von Kurt Cobain
Auch 27 Jahre nach dem Tod von Nirvana-Sänger Kurt Cobain gibt es Unklarheiten. ROLLING STONE befragt Forensiker Dr. Mark Benecke zu möglichen Fehlern bei der Begutachtung der Leiche und der Rolle Courtney Loves.
Am 05. April 1994 brach für Nirvana-Fans die Welt zusammen. Kurt Cobain wurde an diesem Tag in seinem Haus in Seattle leblos aufgefunden. Er war bereits seit drei Tagen tot. Der Fall gilt als Selbstmord, da der Sänger mit einer Schrotflinte zwischen seinen Beinen, einer Kopfwunde und einem Abschiedsbrief entdeckt wurde. Diese Diagnose wurde auch vom Forensiker Nicholas Harshtorne getroffen, der die Leiche untersuchte.
Obwohl die ermittelnde Polizeibehörde einen Mord ausschloss, sind Gerüchte und Spekulationen über das Ableben von Kurt Cobain nie abgeebbt. Einer der bekanntesten Zweifler ist Tom Grant, der Privatdetektiv, der von Courtney Love angeheuert wurde, um Cobain zu beschatten. Grant hat sein Leben der Aufklärung des Falls gewidmet und weist auf die Ungereimtheiten hin, wie die ungewöhnlich hohe Morphinkonzentration im Blut, die schlampige Arbeit der Polizei und Courtney Loves widersprüchliches Verhalten.
ROLLING STONE untersucht den Fall mit dem Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke noch einmal.
ROLLING STONE: Herr Benecke, was denken Sie über die Todesumstände von Kurt Cobain?
Benecke: Der Fall ist super spannend. Den kann man problemlos als „Lehrfall“ nehmen. Also nicht leer wie Leere, sondern um damit zu unterrichten. Es sind viele Parteien involviert und es gibt interessante Aussagen, wie die der Haushälterin, die es komisch fand, dass die ganze Zeit immer über das Testament geredet wurde, zuletzt von Courtney [Love].
Dann dieser Privatdetektiv, Tom Grant, der durch den Versuch der Aufarbeitung des Falls bankrottgegangen ist. Er hatte einen guten Punkt: Die Heroin-Konzentration im Blut war extrem hoch. Was er aber nicht nachgeguckt hat, ist, wie die Konzentration sich verändern kann bei Liegezeit von Leichen. Das kann sich umverteilen in den Organen. Welche Messmethode haben sie verwendet? Wie verfault war die Leiche? Das wäre zum Beispiel wichtig. Es ist sehr, sehr spannend auch heute noch.
Könnte Tom Grant also recht haben mit seiner These, dass Kurt sich unmöglich hätte selbst erschießen können?
Er sagt, wenn Sie glauben, dass man sich mit so einem Heroinspiegel noch erschießen kann, dann glauben Sie auch, man kann sich aufs Dach stellen, mit den Armen wedelt und dann fliegen. Er hat nicht Unrecht. Er hat aber auch nicht recht. Ich habe dazu andere Fälle angeguckt. In Thailand bekommen Menschen sehr gutes Heroin. Da wurden bei einer Person 6,8 Mikrogramm im Körper festgestellt, was also wesentlich mehr wäre als bei Kurt Cobain gemessen wurde. Da weiß ich aber nicht, wie lange diese Personen noch handlungsfähig waren. Wenn du sofort stirbst, hast du ja keinen Blutkreislauf mehr und dann verteilt sich das nicht mehr so stark. Hinzu kommt, dass Cobain ein ‚heavy user‘ war, er nahm regelmäßig viele Drogen.
Auch einige Gutachter und Pathologen sagen, dass mit diesem Morphinspiegel in Kombination mit Valium eine Selbsttötung nicht mehr möglich gewesen wäre, da man innerhalb von Sekunden bewusstlos wird.
Das stimmt aber nicht ganz, denn es kann fünf Minuten dauern, bis das Heroin den Körper flutet. Das hängt natürlich von der Menge ab und davon, wie es genommen wurde. Das ist ja in dem Fall nicht klar, weil Cobain zwei Stiche in den Armen hatte. Aber das heißt nicht, dass das die Stiche waren, wo es injiziert wurde.
Es kann ja sein, dass er sich am Tag vorher injiziert hat und das Zeug anders zu sich genommen hat. Bei so einer „alten“ Leiche siehst du das nicht mehr gut. Wenn die Leiche frisch ist, kann man die Injektion rausschneiden, dann kann es unterm Mikroskop untersucht werden. Aber wir wissen halt überhaupt nicht, ob die Kolleg*innen das gemacht haben oder ob die gesagt haben: ‚Okay, Suizid, und gut, machen wir ein bisschen innere Leichenschau, aber da müssen wir jetzt nicht mehr groß weiter gucken.‘
Welche Rolle spielt seine damalige Frau, Courtney Love? Einige Verschwörungstheoretiker sehen in ihr sogar die Täterin oder Auftraggeberin.
Courtney scheint eine Persönlichkeitsstörung zu haben, sie zeigt meiner Meinung nach Anzeichen einer Borderline-Persönlichkeit. Diese Leute können schon mal mit Gewalt drohen. Die haben zwar keine Skrupel, aber sie möchten sich halbwegs sicher sein, dass kein zu großer Schaden für sie entsteht.
Da könnte man alleine durch die Leiche unheimlich viel ausschließen. Mag ja sein, dass Courtney Love eine sehr unangenehme Person ist. Aber das heißt nicht, dass sie einen Mordkomplott geschmiedet hat. Eine ganz nebensächliche Aussage, die untergegangen ist bei der Untersuchung, ist, warum kümmert Courtney sich nicht darum, dass ihr Mann verschwunden ist? Warum unternimmt sie nichts, sondern beauftragt diesen Privatdetektiv? Der Privatdetektiv sagt selber, ihm kam das wie ein Theaterstück vor, weil sie in Wirklichkeit wusste, was los ist. Und das könnte man ja auch mal prüfen.
Warum ist sie nicht selbst hingefahren…
Also gerade ein Kontrollfreak wie Courtney würde dazu tendieren, selber mal nachzuschauen, was da los ist. Alleine, um möglicherweise etwas für sie Nachteiliges zu verändern. Wie gesagt, dazu fehlen die Infos. Vor allen Dingen von der Plattenfirma, Studio-Personal, sonst irgendwem. Nehmen wir mal an, alle Leute, die damals mit ihr im Studio waren, hätten gesagt: „Der Deal ist, wenn wir ins Studio gehen, redet niemand mit irgendwem außerhalb.“ Wenn man so eine Aussage hätte, wäre die Annahme, Courtney habe etwas orchestriert, widerlegt.
Wie ist ihre Einschätzung zum Gemüt Kurt Cobains?
Interessant bei seinem Charakter ist, wie soft und freundlich er war trotz der Depressionen. Als er bei einem Kumpel geschlafen hat, ist er am nächsten Tag aufgestanden und hat gefragt, wie er im Haushalt helfen kann. Das ist ganz ungewöhnlich, weil normalerweise stark Depressive das nicht auf die Kette kriegen. Daran sieht man, wie mild und freundlich er war. In den letzten Jahren lastete ein unglaublicher Druck auf Kurt. Vielleicht durch die mögliche Scheidung, vielleicht auch, weil er aus dem ganzen Ding raus wollte. Viele haben gesagt, dass er auch keinen Bock auf dieses Luxusleben hatte.
Dazu war er stark drogenabhängig…
Das macht die Sache auch noch mal schwieriger. Sein bester Freund hat gesagt, Kurt Cobain wollte überhaupt nicht von den Drogen runter. Der Druck kam nur von außen, von der Plattenfirma und der Presse und deswegen ist er halt wie viele von diesen Hollywoodstars in die Entzugsklinik gegangen, hatte aber kein Interesse an einem Entzug.
Auch der Abschiedsbrief sorgt für viel Gesprächsstoff, da die Schriftstücke nicht zusammenpassen. Ist es überhaupt ein richtiger Abschiedsbrief?
Was ich interessant finde, ist, dass er den Brief an seinen imaginären Freund Boddha geschrieben hat. Ein Überbleibsel aus seiner Kindheit. Diesen erfundenen Freund hatte er, als er noch fuzzy-klein war, und behält ihn bis zuletzt. Also ich meine, wenn man es mal ernst nimmt, hat er den Abschiedsbrief an ihn geschrieben. Das ist schon eindrucksvoll. Andererseits kann man genauso sagen, das ist die Mischung aus Drogen, Depression, den Umständen, es war einfach nur ein wirrer Text. In der Situation wirkt es dann wie ein Abschiedsbrief, aber es muss keiner sein. Das darf man nicht vergessen — es gibt viel ältere suizidale Gedichte und Songtexte von ihm.
Und bei Courtney Love hat man Zettel gefunden, wo sie eine andere Handschrift ausprobiert hat. Was denkst du darüber?
Durch die Schrift, mit Kurt Cobain geschrieben hat, ist das eh nicht schwierig zu fälschen. Das kann sogar ich als Laie. Es ist auch nicht unüblich, dass Partner*innen schon mal füreinander Postkarten oder ähnliches unterschreiben. Es heißt natürlich noch nicht, dass sie deswegen Mörderin ist oder es ein Auftragsmord war. Sie ist ein extremer Kontrollfreak. Es gibt diese Aufnahmen, wo man richtig sieht, wie sie, wenn sie am roten Teppich ist, immer genau guckt, wem sie das nächste Küsschen gibt. Das ist ja schon fast wie eine Karikatur eines unangenehmen Hollywood-Stars.
In diesem Spezialfall ist ihr wirklich absolut alles zuzutrauen. Also kriminalistisch meine ich, nicht privat. Nur das heißt noch lange nicht, dass sie deswegen die Täterin ist. Oder einen Auftragsmord begangen hat. Aber ich würde ihr in diesem Fall alles zutrauen, auch die Änderung des Briefes.
Ein weiterer Punkt, der viele beschäftigt: Es ist doch verrückt, dass die Bilder der Leiche nie veröffentlicht wurden. Das würde viel über die Todesursache verraten.
Naja, ich kann die Kolleg*innen ein bisschen verstehen, denn ich kenne ein paar Rechtsmediziner*innen. Und die haben dann miterlebt, wie zum Beispiel von John F. Kennedy die Fotos geleaked wurden mit dem weggeschossenen Kopf. Das sieht schon ungewöhnlich aus. Also wenn du das noch nie gesehen hast, so eine riesige Kopfwunde. Das ist verstörend. Und hier wusste man, dass immer die Gefahr besteht, dass irgendwer das in die Finger kriegt und es Nachahmer gibt. Wenn man nett denkt, dann haben die das zugunsten der Jugendlichen, Kinder und Depressiven nicht gemacht.
In dem Buch „Mordfall Kurt Cobain“ heißt es, es gab nach seinem Tod 68 Suizide von meist jungen Menschen, die auch irgendwelche Abschiedsbriefe hinterlassen haben oder Nirvana gehört haben, während sie sich getötet haben.
Das ist sicher krass. Aber man müsste dann über fünf Jahre gucken, wie sich die Zahl der Selbsttötungen verhält. Meiner bisherigen Berufserfahrung nach ist es so, dass die Anzahl der Suizide sich nicht ändert, auf längere Zeit gesehen. Du willst allerdings als Stadtverwaltung, als Institut, als Wissenschaftler, Wissenschaftlerin ohnehin nicht in die beklemmende Situation kommen, dass du darauf angesprochen wirst, ob du Schuld daran trägst, dass mehr Menschen tot sind.
Aber nochmal zu den Fotos. Ist es normal, dass die nie entwickelt wurden?
Es ist ganz unüblich, dass die Fotos nicht entwickelt werden, also ich möchte schon sagen, dass ist ein Unding. Wir reden jetzt ja nicht von Kriegen oder sehr schwierigen politischen Situationen, wo alles mögliche mit Foto passieren kann, sondern eigentlich von einer Sache, die man ganz sauber abarbeiten konnte, wie jeden anderen Todesfall auch.
Das Haus, in dem Kurt Cobain mit Courtney Love lebte, bevor er sich schließlich umbrachte
Hätten Sie der Seattle Police als Kriminalbiologe Hilfe angeboten?
Da ist mehr dran, als man glaubt: Es ist nie verkehrt, bei Kolleg*innen nachzufragen. Das mache ich auch oft. Wir haben beispielsweise über die Morphin-Verteilung im Blut gesprochen. Das wäre etwas, wo ich in so einem Fall sofort Kolleg*innen nach deren Erfahrungen ansprechen würde, und sei es nur, um auszuschließen, dass irgendein tatsächlich merkwürdiges Ereignis vorliegt. Alles an Ausschlussverfahren ist hier eben vernachlässigt worden. Man hat nicht gesagt: ‚Wir machen uns die Mühe und packen das ganz große Besteck aus. Wir machen eine Blutspuren-Untersuchung und testen die Haare. Sachverständige prüfen die Handschrift und so weiter.‘
Nicht um irgendwen festzunageln, sondern um zur Wahrheit zu kommen. Man hätte einfach mal großes Besteck auspacken sollen. Nur in dem Moment, wo wir das große Besteck auspacken, fördern wir die journalistische Annahme, dass es sich um einen Tötungsdelikt handeln könnte. Journalist*innen fragen sich dann ‚Warum machen die hier so ’ne Welle?‘. Aber die braucht man. Du kommst halt nur zur Wahrheit durchs Ausschlussverfahren in solchen Fällen.