Der Moment
Manchmal verdichtet sich die Karriere eines Künstlers oder einer Künstlerin in einem einzigen Moment auf der Bühne: Bob Dylan, wie er in Newport 1965 mit elektrisch verstärkter Band im Rücken „Maggies Farm“ singt und den Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft, Tradition und Innovation eröffnet, die Beatles, wie sie am Ende ihres Sets im Shea Stadium „I’m Down“ spielen und dabei im Adrenalinrausch giggeln und doch stärker sind als der wahnsinnige Orkan, der sie umtost, die Rolling Stones, wie sie in Altamont vorm Teufel „Under My Thumb“ spielen, Joni Mitchell, wie sie die große Festivalbühne auf der Isle of Wight zu einem intimen Ort macht, als sie „My Old Man“ singt, Beyoncé, die bei der Superbowl-Halbzeitshow 2016 Coldplays Fahrstuhlmusik mit ihrer Empowerment-Geste „Formation“ unterbricht.
Bei Paul Simon ist die Bühne ein bisschen kleiner. Natürlich befindet sie sich mitten in New York – seiner Stadt. Im achten Stock eines Wolkenkratzers am Rockefeller Plaza Nummer 30 in Manhattan. Am 20. November 1976 ist Simon hier zum zweiten Mal Gastgeber der Comedy-Show „Saturday Night Live“, die sein Freund Lorne Michaels konzipiert hat. Es ist die Thanksgiving-Folge. Und Simon kommt zur Titelmelodie in einem Truthahn-Outfit auf die Bühne. Mit leidendem Blick nimmt er zu Rhodes-Klavier-Akkorden das Mikrofon mit seinem rechten Flügel vom bereitgestellten Hocker und beginnt zum Gelächter des Publikums mit geschlossenen Augen zu singen: „I met my old lover on the street last night/ She seemed so glad to see me, I just smiled/ And we talked about some old times, and we drank ourselves some beers/ Still crazy after all these years/ Ooooh, still crazy …“ Dann hält er inne, so als werde er sich gerade erst seiner absurden Situation bewusst. „Lass sein“, befiehlt er dem Bandleader, „vergiss es, Richard“, und legt resigniert das Mikro wieder auf den Hocker. Er wendet sich mit flehentlich ausgebreiteten Flügeln an das Publikum. „Wissen Sie, ich habe gesagt … als das Truthahn-Konzept vorgestellt wurde, habe ich gesagt, dass ich mich mit hoher Wahrscheinlichkeit total lächerlich mache, wenn ich dieses Kostüm trage. Alle haben nur gesagt: ,Ach, ist doch Thanksgiving, mach mal.’ Aber, wissen Sie, ich fand nicht, dass es zu meinem Image passt oder zu meinen Texten – ,The Boxer‘ und so, zu keinem dieser Lieder. Sie haben gesagt: ,Du nimmst dich einfach viiiiiel zu wichtig. Warum hörst du nicht auf, dich immer soooo wichtig zu nehmen. Mach dich mal (schlägt mit den Flügeln) ein bisschen locker, und vielleicht lachen die Leute dann mal ein bisschen. Wenn du Mister Alienation sein willst, dann sei doch Mister Alienation.’ Ja, aber ich will ja gar nicht Mister Alienation sein. Ich möchte ein ganz normaler Typ sein, aber ich glaube, das hier ist einfach ein komplettes Desaster. Es tut mir leid. Ich gehe jetzt und zieh mich um.“ Mit gesenktem Kopf verlässt er hadernd die Bühne.
Paul Simon ist immer wieder an dem gescheitert, was Leute in ihm sahen oder aus ihm machten. Dass er trotzdem einer der erfolgreichsten Songwriter der Popgeschichte geworden ist, ist eigentlich ein Wunder. Es dauerte lange, bis er seine Rolle fand, er hat aber auch schon sehr früh angefangen, danach zu suchen.