Sam Fender im Interview: „Ich will immer die ganze Story schreiben“
Sam Fender veröffentlichte mit „Seventeen Going Under“ gerade sein zweites Studioalbum. Wir haben mit dem UK-Shooting-Star über wilde neue Songs, politische Polarisierung und Erfolgsdruck gesprochen.
Wer sich in den letzten Jahren mit der Indie-Rock-Szene auseinandergesetzt hat, kam an Sam Fender schwerlich vorbei. Der 27-jährige Singer-Songwriter aus dem beschaulichen Nord-Osten Englands fiel den meisten wohl erstmals auf, als sein Name 2018 neben Stars wie Billie Eilish und Shooting-Star Sigrid auf der angesehenen „Sound of 2018“-Shortlist der BBC auftauchte.
Spätestens mit seinem ersten Longplayer „Hypersonic Missiles“ (2019) bewies Fender dann, was vielen längst klar war: Er ist gekommen, um sich einen dauerhaften Platz im Musikbusiness zu sichern. Das Album erreicht in zehn Ländern die Charts, in UK sogar Platz 1.
Beflügelt vom Erfolg des Albums, brach Fender damals zur großen Europa-Tournee auf. Doch auch er blieb nicht verschont von den Auswirkungen der weltweit um sich greifenden Pandemie: Er sieht sich gezwungen die Tour abzubrechen und die letzten Konzerte abzusagen. Zurück in seiner Heimat North Shields, eingesperrt durch den Lockdown, beginnt Fender, seine Zeit zu nutzen und das zu tun, was er am besten kann: Songs schreiben.
Nun, etwas über zwei Jahre nach seinem Debüt, das Gröbste der Pandemie scheinbar hinter uns, hat Fender schon wieder ein Album in der Pipeline: „Seventeen Going Under“. Es ist ein Album, das Fender selbst als sein bislang persönlichstes beschreibt. Auf elf Songs hält er sich kompromisslos den Spiegel vor und wirft einen Blick auf seine Vergangenheit und seine Heimat. Dabei verpackt er detaillierte Beobachtungen gekonnt sowohl in kontemplativ vorgetragene Geschichten als auch in große, treibende Hymnen.
Wir haben uns vor dem Release seiner neuen LP mit Sam Fender getroffen um über die Entstehung der Platte zu sprechen. Dabei ging es um politische Polarisierung, Arbeitsmoral, Tour-Pläne und – wie sollte es auch anders sein – um Corona.
ROLLING STONE: Du bist ja endlich wieder auf Tour. Zuerst einmal: Ich habe gehört, es gab bei euch kürzlich einen COVID-Zwischenfall. Was war da los?
Sam Fender: Im Grunde genommen hatte eines unserer Mitglieder die Krankheit und dann waren alle für ein paar Wochen krank. Es stellte sich heraus, dass ich nur einen Infekt hatte. Aber wir dachten, wir müssten uns testen lassen, weil jemand es hatte und alle offensichtlich zusammenarbeiteten und wir dachten, wir könnten es alle haben – und wir haben es nicht, also ist alles gut!
Ihr tourt derzeit durch Großbritannien. Wie ist es für dich, nach der ganzen Pandemie-Zeit wieder auf der Bühne zu stehen?
Sam Fender: Magie, absolute Magie – es ist unglaublich. Ich liebe es wirklich, ich liebe es. Es ist wie ein verdammter Adrenalin-Stoß, von dem ich ganz vergessen hatte, dass er existiert. Es ist großartig.
Gibt es irgendwelche Pläne für Shows im Rest Europas?
Sam Fender: Ja, definitiv! Ich habe keine Ahnung wann, aber zu 100 %! Die letzte Tour, die wir vor dem Lockdown gemacht haben, ging durch Europa und war eine der besten Touren, die ich je gemacht habe. Es war eine meiner Lieblingstouren, es war unglaublich.
Für dich begann diese ganze Pandemie-Geschichte direkt nach deiner Tournee mit „Hypersonic Missiles“. Ihr habt die Tour im Dezember beendet und kurz darauf ging es so richtig los. Wie hat sich diese Zeit für dich angefühlt?
Sam Fender: Ich denke, ich bin genauso gut damit umgegangen wie alle anderen. Ich habe es verdammt gehasst, weißt du, es war scheiße, aber ich war immer irgendwie achtsam. Ich habe immer noch einen Job und viele meiner Freunde haben ihre Jobs verloren, also war ich in diesem Sinne dankbar. Und ich war dankbar, dass ich ein Album hatte, das ich gemacht und geschrieben hatte. Aber abgesehen davon – ja, es war verdammt beschissen. Ich bin zu Beginn der Pandemie nach Shields gefahren, weil ich gesundheitlich angeschlagen und mein Immunsystem geschwächt war. Also musste ich im Grunde drei Monate lang im Haus bleiben und war komplett allein. Das war ziemlich hart… Aber ich bin mit einer Platte herausgekommen, auf die ich wirklich stolz bin, und ich kann wieder auf Tour gehen, also ist alles gut – ich bin glücklich damit.
Und hat dir der Stillstand geholfen, dich auf das neue Album zu konzentrieren oder hat es die Arbeit verlangsamt?
Sam Fender: Mhh. Weißt du, ich habe ungefähr 60 Songs geschrieben, also war ich schon sehr produktiv. Aber es gab eine Menge ziemlich schweres Material. Nicht im Sinne von „rockig“, sondern im Sinne von lyrisch ziemlich dunkel. Es war also schwierig, einen Zustand zu finden, in dem ich ein paar Songs schreiben konnte, die für Stadien geeignet waren. Denn ich wollte versuchen, ein paar große Songs hinzubekommen, aber ich schrieb ständig so eine Art “downbeatiges“, melancholisches Zeug, weil das Leben melancholisch war. Aber am Ende haben wir es geschafft. Es hat eine Menge Arbeit gekostet, aber wir haben es geschafft, und ich bin wirklich stolz darauf. Ich bin sogar noch stolzer auf das Album als auf das erste. Ich habe das Gefühl, dass es ein viel zusammenhängenderes Werk ist. Und ich denke, es ist ein bisschen reifer und einfach größer – der ganze Sound – ich war selbstbewusster bei den Arrangements.
Du hast „Seventeen Going Under“ kürzlich als ein Coming-of-Age-Album beschrieben. Was meinst du damit?
Sam Fender: Nun, im Grunde das, wonach es klingt: Es ist eine Coming-of-Age-Platte. Viele der Songs handeln von meiner Kindheit, meinen Teenagerjahren oder meinen frühen Zwanzigern. Viel davon handelt von meiner Familie und den Irrungen und Wirrungen der Jugend und wie sie sich auf dein Selbstwertgefühl als Erwachsener auswirken. Wie sich das auf meine Beziehungen auswirkte und wie das Selbstbewusstsein die Person formt, die man wird. Ich habe zu der Zeit eine Therapie gemacht. Das hat mir geholfen, diese Geschichten so zu artikulieren, dass sie den Leuten Spaß machen, anstatt wie ein verdammter Trauermarsch zu klingen. Aber ja, es ist eine Platte zum Erwachsenwerden. Ich mag das – wie ein Soundtrack zum Erwachsenwerden.
Du hast auch gesagt, dass dies ein persönlicheres Album als dein vorheriges sein wird. Dass es mehr selbstreflektierend und weniger nach außen gerichtet ist. Glaubst du, dass es die Pandemie und die Therapie waren, die diese Verschiebung in deinem Fokus verursacht haben?
Sam Fender: Ja, absolut. Es war komplett die Pandemie und die Therapie. In der Therapie habe ich über mich selbst geredet, und während der Pandemie konnte ich über nichts anderes reden, weil es niemanden gab, mit dem ich reden konnte. Das war’s!
Es scheint, als sei deine Heimatstadt North Shields ein allgegenwärtiges Thema in deinen Songs. In „Seventeen going under“ bildet sie sowohl den Ausgangspunkt als auch den Abschluss des Albums. Was bedeutet deine Heimatstadt, deine Herkunft für dich und inwiefern hat sie das Album inspiriert?
Sam Fender: Ja, total. Ich wollte diese Platte eigentlich bewusst über Shields machen. Ich wollte, dass es um meine Heimat geht, als ich vor der Pandemie angefangen habe. Und dann wurde es zu einer Platte, die mehr von meinem Leben handelte, anstatt nur von zu Hause. Es ging mehr um meine Kindheit und wurde persönlicher. Aber der ursprüngliche Plan war, eine Art Konzeptalbum über Shields zu machen. Das hat sich dann doch ein bisschen verflüchtigt und es wurde am Ende eine introspektive, persönlichere Platte.
Du hast keine Angst davor, auch politische Gedanken in deiner Musik zu teilen. Das konnte man auf deiner vorherigen LP bei Tracks wie „White Privilege“ hören und du zeigst es auch auf deinem kürzlich veröffentlichten Song „Aye“. Worum geht es in dem Lied und denkst du, dass jeder Künstler eine gewisse Verantwortung hat, politische oder soziale Aussagen in seiner Musik zu teilen?
Sam Fender: Ich denke nicht, dass es meine Verantwortung ist, aber wenn ich etwas zu sagen habe, dann habe ich als Künstler auch eine Plattform dafür. Dabei unterscheiden sich die politischen Botschaften auf dieser Platte aber sehr von denen auf dem ersten Album. „Hypersonic Missiles“ habe ich geschrieben, als ich Anfang zwanzig war. Damals hatte man ein Gefühl von unerbittlicher Furchtlosigkeit und dachte, man wisse alles. Und als ich dann 25 oder 26 war, wurde mir klar, dass ich verdammt noch mal gar nichts weiß. Also geht es auf diesem Album mehr um die Dinge, die ich weiß. „Aye“ ist wie eine Art Stoner Verschwörung über diese Art von „Illuminati-Figuren“ und über Milliardäre. Es geht wirklich um die 1 % und diese „Wir“- und „Sie“-Situation. Und wie ich das Gefühl habe, dass diese Leute im Laufe der Geschichte immer existiert haben und all diese verrückten historischen Ereignisse immer von der Seitenlinie aus beobachtet haben. Die andere politische Botschaft ist, dass ich das Gefühl habe, dass die Arbeiterklasse des Nordostens sich vom linken Flügel vernachlässigt fühlt. Und der rechte Flügel ist nur ein Haufen verdammter Psychopathen, sodass ich das Gefühl habe, dass es keine richtige Partei gibt, die man wählen kann. Ich habe das Gefühl, dass das ganze System im Allgemeinen nur aus zwei Parteien besteht, die ganze Zeit. Das ist zwar ein bisschen mangelhaft, aber so ist die Welt, in der wir leben.
Ja, ich erkenne definitiv auch eine gewisse Polarisierung in Deutschland.
Sam Fender: Ja. Alles ist polarisiert im Moment wegen der sozialen Medien. Du bist entweder im einen oder im anderen Lager – du bist entweder ein Rassist oder eine “Snowflake“ [abwertende Bezeichnung für „überempfindliche“ Millenials]. Es gibt keine Art von Mittelweg und es gibt so etwas wie Kontext oder vernünftige Diskussionen nicht. Es gibt nur Geschrei – eine Menge Geschrei. Also komme ich mit noch mehr Geschrei daher. (lacht)
In deiner Musik gibst du sehr tiefe Einblicke in dein Leben und deine Biographie. Hast du es jemals bereut, dich deinen Zuhörern so zu öffnen?
Sam Fender: (lacht) Ich weiß nicht, du solltest mir diese Frage in zwei Jahren stellen, dann werden wir sehen, es ist ja noch ziemlich früh. Die Leute haben die Platte noch nicht gehört, also… hoffentlich kommt sie gut an.
Mir ist aufgefallen, dass es auf „Seventeen going under“, wie schon auf „Hypersonic missiles“, keine Features gibt. Ich habe ein Interview gelesen, in dem du dich selbst als „Kontrollfreak“ beschreibst, wenn es darum geht, Musik zu machen. Denkst du, dass diese Eigenschaft dich zu einer Art Solo-Künstler macht?
Sam Fender: Brandon Flowers von The Killers will wahrscheinlich etwas mit mir machen. Also werde ich etwas mit ihm anstellen. (lacht) Im Allgemeinen finde ich es gut, mit anderen Leuten zu arbeiten, wenn es ein gemeinsames Projekt ist. Aber meine Projekte behalte ich gern für mich. Nur weil ich, wenn es schief geht, nicht in der Lage sein will, jemand anderem die Schuld zu geben. (lacht) Also, ich bin einfach stolz, wenn es um meine Sachen geht. Es ist wie ein Baby. Wenn man ein Album macht, ist es wie ein eigenes Kind. Außerdem will ich immer eine vollständige Geschichte schreiben. Ich will nicht mitschreiben und nur die Hälfte der Story schreiben – ich will sie alleine schreiben.
Und du hattest mehr als genug Geschichten, aus denen du wählen konntest, denn wie du schon sagtest, hast du über 60 Songs geschrieben. Das ist eine ganze Menge! Wie gehst du beim Schreiben von Songs vor? Fängst du einfach an, wann immer du Zeit hast, oder kommen dir die Ideen in jeder Situation und du musst sofort einen Stift nehmen und sie aufschreiben?
Sam Fender: Das ist jedes Mal anders, manchmal sitze ich auf dem Sofa und schreibe Gedichte, manchmal spiele ich Gitarre und mir kommt eine bestimmte Melodie oder eine Akkordfolge. Wenn ich die Texte zuerst schreibe, werden die Songs meistens zu meinen persönlichen Favoriten auf dem Album. Aber wenn ich die Melodie oder die Akkordfolge zuerst schreibe, wird daraus immer eine Single. Es ist also beides möglich.
Bei „Seventeen Going Under“ stand zuerst die Akkordfolge, nehme ich an?
Sam Fender: Ja, es war eine Akkordfolge! „Spit of you“ war eine Akkordfolge, „Get you down“ ebenfalls. „Aye“ war zuerst ein Text, „Long way of“ eine Akkordfolge, „A dying light“ – Akkordfolge, aber „Mantra“ wiederum zuerst der Text. Und alle haben ihre eigene Stimmung.
Ich denke, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass du im Moment ziemlich gehyped wirst. Die Leute vergleichen dich mit Bruce Springsteen. Elton John ist ein Fan deiner Musik. Ich habe sogar gehört, dass Sting zu einem deiner Konzerte gekommen ist. Fühlst du dich einfach nur geehrt durch so viel Aufmerksamkeit oder verspürst du manchmal einen gewissen Druck, mit deiner bisherigen Leistung mitzuhalten, um die Erwartungen von außen zu erfüllen?
Sam Fender: Wiederum beides. Es ist eine Ehre, aber es fühlt sich manchmal auch wie Hochstapelei an. Es ist wild – aber es ist toll. Ich bin froh, dass es so gekommen ist, dass es gefällt. Das ist besser, als wenn alle es hassen. (lacht)
Und wie war es, Sting zu treffen?
Sam Fender: Er ist eine Legende – eine totale Legende! Und ein netter Kerl. Weißt du, ich liebe The Police. Ich bin mit ihnen aufgewachsen, also war es brillant. Und Sting ist ein Held. Er ist so eine Art mystischer Geordie-Pate. Also ja – es war ziemlich aufregend.
Ist es wahr, dass er einfach auf deinem Konzert auftauchte und nach der Show zu dir kam und…
Sam Fender: …und mich umarmt hat, ja! Er hat mir neulich auf FaceTime angerufen und es war so verrückt… es erschien auf meinem Handy und da stand „Sting“ und ich war wie… (guckt ungläubig). Ja, wir chatten ab und zu – er ist ein guter Typ.
Zukünftiges Feature-Material?
Sam Fender: Oh Gott… (lacht)
Kannst du dich an einen bestimmten Moment in den letzten drei Jahren erinnern, in dem dir klar wurde: „Ok, das passiert wirklich, ich werde mit meiner Musik berühmt“?
Sam Fender: Ich glaube, als wir den Plattenvertrag unterschrieben haben. Da habe ich gedacht: „Verdammte Scheiße…“. Weil man Geld bekommt, wenn man einen Plattenvertrag unterschreibt. Und es war einfach Geld, das jenseits meiner damaligen Vorstellungskraft lag. Es hat also augenblicklich mein Leben verändert. Ich gehörte nicht mehr zu den untersten Prozent des Einkommens – ich bezog damals Sozialhilfe -, sondern war sofort in der obersten Steuerklasse – über Nacht. Und das alles, nachdem ich ein Stück Papier unterschrieben hatte. Das war einfach verdammt…du bist einfach baff. Und es war erstaunlich, aber gleichzeitig auch beängstigend, weil man sich immer denkt: „Das kann nicht wahr sein, wo ist der Haken, das wird alles irgendwann schief gehen“. Ich bin nämlich ziemlich pessimistisch (lacht). Aber ja, das war verrückt!
Wenn es Musik nicht gäbe, was denkst du, würdest du heute stattdessen tun?
Sam Fender: Wahrscheinlich immer noch im Pub arbeiten – Bier zapfen. (lacht)
Ok, letzte Frage: Wenn dich jemand fragen würde, in welcher Situation er dein Album zum ersten Mal hören sollte, was würdest du ihm sagen?
Sam Fender: Ich würde mich entweder mit guten Lautsprechern oder Kopfhörern hinsetzen, eine Flasche Bier aufmachen oder mir ein Glas Wein einschenken und es einfach auf sich wirken lassen. Das ist alles – es auf sich wirken lassen, egal wo, solange man sich das ganze Ding anhören kann, ohne unterbrochen zu werden.
Ich persönlich habe festgestellt, dass es gut zum Autofahren passt.
Sam Fender: Ah ja, beim Autofahren! Ja, beim Autofahren wäre es gut! Aber man darf nicht trinken – das ist das einzige Problem. (lacht)
„Seventeen Going Under“ von Sam Fender im Stream