Alle sind so ernst geworden, nur Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter nicht
Kurz vor der Bundestagswahl 2021 wurde es sogar bei Stuckrad-Barre politisch – ein bisschen zumindest. Ein Besuch beim Auftritt mit Martin Suter in Berlin.
Heimspiel für Stuckrad-Barre: Auf ihrer Lesereise verschlug es Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre vergangenen Freitag (24. September) in den Admiralspalast in Berlin. Wie schon bei vorherigen Abenden holten sie sich Unterstützung mit auf die Bühne: Diesmal kam Danger Dan (Solokünstler und Mitglied der Antilopen Gang). Grund ihres Besuchs war das im Dezember 2020 veröffentlichte „Alle sind so ernst geworden“ – eine transkribierte Sammlung von Unterhaltungen zwischen dem Schriftsteller-Duo.
Kontraste formten das Hauptprogramm des Abend: Ein ziemlich voller Admiralspalast und eine leere, dunkle Bühne. Ein hektischer Stuckrad-Barre (wie immer) und ein gelassener Martin Suter (auch wie immer). Es wurde auf unpolitische Weise doch noch irgendwie politisch. Und Stuckrad-Barre nimmt lieber das freie Mikrofon, Suter klebt sich eins an den Mundwinkel.
Zu Beginn wird es erstmal laut, Musik füllt den Raum und recht pünktlich für (literarische) Rockstars, betreten Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter die Bühne. Ersterer springt über das Podium, lässt sich feiern, Suter hingegen bleibt ruhig. Sogar noch, als sie sich setzen und bereits einige Minuten im Willkommenheißen stecken, denn Martin Suter vergisst sein Buch im Backstage-Bereich. Ob es nun zur Show gehört oder nicht, die beiden überspielen die Situation gekonnt. Sie könnten ja auch einfach mit den Passagen anfangen, die Suter auswendig gelernt hat.
Holzbretter für im Hedonismus festgefahrene Situationen
Nach gut 10 Minuten beginnen die beiden dann aus ihrem Werk vorzutragen. Sie starten mit den ersten Seiten von „Alle sind so ernst geworden“, in denen es um Badehosen in allen Formen und Farben geht – genauer noch um jene Badehosen, die die beiden einstmals trugen. Ein freischaffender Akt der Inklusion, der Diversität und damit ein Beitrag zum aktuellen Zeitgeschehen. Es sei das Gespräch, bei dem sich die beiden kennenlernten. Suter erklärte bereits, dass er für „Small Talk“, ein Format seiner Webseite, gerne ein Diktiergerät nutzt, um Gespräche mit Bekanntschaften aufzunehmen. So sei es auch an diesem Tag gewesen. Anschließend habe er das Gespräch transkribieren lassen. Und alle anderen, die im Buch vorkommen, auch.
Vorher ruft Stuckrad-Barre jedoch in sein frei stehendes (vor ihm klemmendes) Mikrofon: „Geht euch am Sonntag gegen Afghanistan impfen“, nachdem er sich in einem zu langen Gedankenstrom verheddert. Zwei Tage später ist die Bundestagswahl. Diese Abneigung politischer Themen mit dekadentem Augenzwinkern behält er eine ganze Weile bei, bis er schließlich nicht drum herumkommt, sich Holzbretter für seine im Hedonismus festgefahrenen Situation zu besorgen. Ein Aufruf, zumindest Wählen zu gehen, folgt und bitte Hauptsache keine Faschisten. Auch Stuckrad-Barre sei es leid – für einen kurzen Moment schwirrt auch ihm die Dringlichkeit vor dem inneren Auge und lässt ihn aus der Haut fallen.
Martin Suter nippt weiterhin am Rotwein, als Schweizer mischt man sich ohnehin selten ein. Eine Eigenschaft, die viele mit zunehmenden Lebensjahren ohnehin perfektionieren, sodass man dieser Gelassenheit schon mal (in mancher Hinsicht im jungen Alter) neidisch entgegensehen kann. Zumindest wenn dabei die Sturheit nicht überwiegt. Bei Suter macht es nicht den Anschein.
Das Zuhörerlebnis der gedruckten Konversation ist schließlich auch ein völlig anderes als der imaginierten Stimme im eigenen Kopf. Die Art ihres Vortragens macht den Text zu einem anderen – auch wenn oder gerade weil die beiden Schriftsteller ihr Lesen immer wieder pausieren, um eigene Gedanken zwischenzuschieben. Hören könne man ihr Werk bereits auf vielen gängigen Plattformen (ohne, oder fast ohne größere Unterbrechungen); eingelesen von Caren Miosga (Stuckrad-Barre) und Linda Zervakis (Martin Suter).
Bunte Badehosen als Akt des Rebellierens
Stuckrad-Barre, der große Teile des Abends in Eigeninitiative leitet und Suter gern Wein nachschüttet, beginnt schließlich aus einer Mail vorzulesen, die eine Besucherin ihrer Lesung in Köln verfasst hatte. Diese fühlte sich durch den Abend in ihrer eigenen „Intelligenz“ beleidigt und hatte auch dem Autoren-Duo vorgeworfen, das ein „Austausch zwischen zwei Intellektuellen“ zwar angekündigt gewesen sei, aber nicht stattfand. Aua.
Die beiden nehmen es mit Humor, wie auch sonst, und erstatten ihr die wieder eingeforderten Gebühren für die Karte, das Parkticket und eine Fahrstreckenpauschale (so-und-so-viel-Euro pro Kilometer) zurück. Martin Suter liest seine Antwort vor und dass er gewillt sei, den in Cent genauen Betrag auf einen glatten aufzurunden. Das Publikum ist begeistert.
Die beiden hellsten Momente sollen aber nicht von „Unterhaltungstalent“ Stuckrad-Barre kommen – sondern zum einen von Martin Suter und zum anderen von Danger Dan. Letzterer hatte die beiden schon am Vortag in Hamburg musikalisch unterstützt. Sein Song „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ spielt auf ein ähnliches Motiv wie jenes von „Alle sind so ernst geworden“ an: Im digitalen Zeitalter von Trollen und Shitstorms behaupte so mancher (nicht zwingend eine der drei auf der Bühne sitzenden Personen), dass man ja nicht mehr alles sagen könne. Der Wandel dieses öffentlichen Diskurses wird von den Künstlern aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Danger Dan verpackt es etwas politischer, während er solo am Keyboard den Song singt. Suter und Stuckrad-Barre unterhalten sich als Akt des Rebellierens lieber über bunte Badehosen.
Danger Dan hebt dann in Konzert-Manier beim Refrain den Arm und streckt ihn in Richtung des Publikums. Was? Ach ja, das Zeichen um mitzusingen. Das muss auch die vom Auftritt gebannte Zuschauerschaft erstmal verstehen. Beim zweiten Mal klappt’s dann. Den Höhepunkt formt aber Suter, der sich gegen Ende des Abends in sympathischer Verwirrung verheddert und beim letzen Leseabschnitt andauernd auf den Seiten verrutscht. Und: als er stolz (vielleicht schon emotional) erzählt – und wie auch im Buch nachzulesen ist –, dass er seit 42 Jahren verheiratet ist und dass das Publikum, wenn sie seine Frau sähen, nicht verwundert darüber wären, wie er es so lange mit ihr ausgehalten hätte – so schön sei sie. Was ein Kompliment.
Das ganze Projekt „Alle sind so ernst geworden“ lebt vor allem auch von der Dekadenz, mit der die Schriftsteller in einer Zeit stetiger gesellschaftlicher Unruhe ihre unpolitische Haltung zur Schau stellen. Und das braucht es auch manchmal, schließlich kann man sich an politischen, gesellschaftlichen und globalen Missständen sattsehen.
Auch Aufritte wie dieser sind Teil der erfolgreichen Show um ein Buch, das schlicht eine niedergeschriebene (hochkarätige) Konversation zweier Individuen ist. Manchmal brauche man auch solche Pausen, um Kraft zu sammeln, manchmal will man sich einfach berieseln lassen. Und dafür kann man auch ein bisschen dankbar sein. Denn jene Rolle in der Gesellschaft einnehmen, die dauerhaft seicht berieselt, will man letztlich ja irgendwie auch nicht. Zum Glück sind die beiden nicht allzu ernst geworden.