„Nevermind“ von Nirvana: Ein Album zum Mitsingen – um jeden Preis
ROLLING-STONE-Autor Joachim Hentschel über seine ganz persönliche Erfahrung mit Nirvanas „Nevermind“.
„He’s the one who likes all our pretty songs…but he don’t know what it means!“
Das war „In Bloom“, der zweite Song von „Nevermind“, und schon war man ertappt. Weil keiner etwas verstand, nur Fetzen, „Polly wants a cracker“, „No, I don’t have a gun“, „I like it, I’m not gonna crack“, „Here we are now, entertain us“.
Und trotzdem schien es, als wolle „Nevermind“ mitgesungen werden, von Anfang bis Ende, um jeden Preis. Man brüllte sich Unartikuliertes entgegen, auf Tanzflächen und bei betrunkenen Partys, jeder hatte eine andere erste Zeile für den Refrain von „Smells Like Teen Spirit“ (wie auch für „Loser“ von Beck), und trotzdem war es am Ende ein großer Chor. Pfingstwunder.
„Nevermind“ schlug ein wie eine Bombe
Sehr viele, die „Nevermind“ live erlebt haben, möchten über die Platte nur in der „wir“-Form sprechen. Es war ja nicht so, dass jemand die unbekannte, unter Umständen sogar „schwer angesagte“ US-Band Nirvana in einen WG-Küchen-Kassettenrekorder schob und damit das Erstaunen seiner Freunde erntete – alle traf es gleichzeitig, es kam über MTV, es war gleich eine sehr öffentliche Sache. Beim ersten Hören war es sogar nichts als Heavy Metal. Das gehörte eigentlich zum Zuständigkeitsbereich der Fans von Faith No More und den Chili Peppers, mit denen man als Hörer von (entweder) den Smiths und (oder) Sting zwar befreundet sein konnte, aber keine ideelle Eintracht spürte.
Daraus wurde das „wir“ von „Nevermind“. Spätestens beim dritten Lied hörten wir alle, dass Kurt Cobain keine Muskeln hatte, mit denen er im Takt spielte. Ein junger Mann, der nichts aufdringlich Jugendliches an sich hatte, der abwechselnd wie ein meckernder alter Mann und wie ein brüllendes Baby klang. Er war sichtlich genervt (wovon, erfuhren wir später), aber offenbar nicht dazu bereit, sich deshalb in sein Zimmer zurückzuziehen. Er hatte eine potente, verzehrende Energie, aber teilte die Momente mit uns, in denen sein Hirn bei aller Tobsucht eingeschalten blieb.
Die beste Stelle von „Nevermind“ liegt unhörbar zwischen den Stücken „Territorial Pissings“ und „Drain You“: Eben hat Kurt Cobain sich in einen solchen Furor hineingesteigert, dass seine Stimme am Ende sein müsste, dann schwingt sie sich schlagartig hoch zu einem unglaublichen, mürrisch erhebenden Strophengesang. Kreuzigung, Auferstehung.
„Nevermind“ konnten wir, anders als richtige Indie-Platten, im Supermarkt kaufen, was gar nicht schlecht war: Meine hat nur 19 Mark 90 gekostet, weil sie schon bei den Chart-Angeboten stand. Ich entdeckte, dass sogar meine elfjährige Cousine die CD hatte. Zum „wir“ gehörte sie deshalb nicht, aber ich begann zu überlegen, ob sie und ich nicht doch irgendetwas gemeinsam hatten.
Viele Monate später, ein Sonntagabend im Stockdunkel auf dem Parkplatz einer Konzerthalle, wo der Deutschland-Auftakt der „In Utero“-Tour stattfinden sollte. Der Zettel im Fenster des Kassenhäuschens: Wir waren da, Cobain kam nicht. Und die Himmelfahrt kommt in der Bibel nicht nach, sondern vor Pfingsten. Manche haben ihre Tickets noch heute.