Pure&Crafted am Freitag: Americana in der „Wall of Death“
Auftakt des Pure&Crafted in Berlin: Mit Jake Bugg, Alice Phoebe Lou – und der ältesten reisenden Steilwand der Welt
Der Nervenkitzel eines Motorradfahrers, der sich in einer „Wall of Death“ genannten Holztrommel der Fliehkraft hingibt, wird wohl nur vom Nervenkitzel eines Veranstalters übertroffen, der während Corona ein Musikfestival plant. Beim Pure & Crafted-Festival in Berlin kann man beide Arten von Adrenalin-Junkies aus nächster Nähe beobachten. Es sei nicht leicht gewesen, das Line-Up zusammenzustellen, sagt der Veranstalter bei einem kleinen Pressegespräch vor Beginn. Bands zu buchen, wenn gerade niemand tourt, ist eine ziemliche Herausforderung; an amerikanische Acts war gar nicht zu denken. Die großen, über Monate nicht auszuräumenden Fragen: Wird das Festival stattfinden können? Werden Leute kommen? Werden Bands kommen? Werden Bands kommen, die jemand sehen will? Am Freitagabend, nach dem ersten Festivaltag, lässt sich festhalten: Das Festival findet statt. Leute sind gekommen. Und Bands sind gekommen.
Eine so großartige Musikerin wie Alice Phoebe Lou zum Beispiel, die, als Berlinerin, zwar keinen weiten Weg hatte, die man aber zuletzt auch nur live sehen konnte, wenn man sie zufälligerweise im Treptower Park erwischte, bei einem ihrer schon legendären Straßenmusikerinnen-Gigs. Am Freitagabend, kurz vor ihrem Auftritt, schaute die gebürtige Südafrikanerin noch einmal beim Stand des ROLLING STONE vorbei und erzählte freudestrahlend, wie toll es sei, endlich wieder richtig live spielen zu können, mit Band und vor großem Publikum. Sie sagte auch, wie sehr sie Elvis Presley möge und welch eine wichtige Inspiration er für sie sei. Eine zunächst eher unerwartete Information, die dann aber, als sie am Freitagabend auf der Hauptbühne ein fantastisches Konzert spielt, sofort einleuchtet.
Wie Elvis ist Alice eine absolut begnadete Sängerin, die mit dem ganzen Körper singt, deren Körperlichkeit, wie bei Elvis, zugleich lasziv und unschuldig ist; ein intuitives Naturtalent, das sich der Energie hingibt, und einfach einen Vibe hat. Als erfahrene Straßenmusikerin gelingt es ihr mühelos, das noch etwas zurückhaltende Festivalpublikum vor die Bühne zu locken. „Die Motorräder werden auch nach der Show noch da sein“, scherzt sie.
Die „älteste reisende Steilwand der Welt“
Die Motorräder, die ja, neben der Musik, das konstitutive Element der Veranstaltung sind. BMW ist Partner, schon seit der ersten Ausgabe 2015, und deren Maschinen stehen auf dem Gelände, bereit, bewundert zu werden. Über ein Dutzend Aussteller haben hier ihre Stände, sie heißen Craftwerk und Walzwerk und Kradwahn. „Menschen Maschinen Motoren“, heißt es vor dem MOTODROM, der „ältesten reisenden Steilwand der Welt“, und diese drei Wörter fassen die Veranstaltung ganz gut zusammen. Man kann Lederjacken, Jeans und Schmuck kaufen, der Friseur heißt „Hair Station“, die Pins kosten 2,50 € („Messe-Spezial: Kauf 6, Nimm 7!“). Ein Liebhaberfest.
Mit den Motorrädern hat Alice Phoebe Lou, die jazzigen Pop spielt, stimmungsvolle Midtempo-Stücke, wohl eher wenig am Hut. Der nach ihr auftretende Jake Bugg schon eher; zumindest kann man sich den mit klassischer Americana spielenden Singer/Songwriter gut auf einem Indian Motorcycle vorstellen. „Wir werden ein paar alte Stücke spielen, und ein paar neue, und sicherstellen, dass ihr alle eine gute Zeit habt“, sagt der Brite mit freundlichem Ernst bzw. ernster Freundlichkeit.
Es sind dann vor allem die alten Stücke, die das Publikum zum Jubeln bringen; Buggs Debüt scheint noch immer sein beliebtestes Album zu sein. Aber er macht es geschickt und baut seine Setlist so auf, dass sich neues Material mit Klassikern abwechselt, und die Energie der Hits die weniger bekannten Stücke beflügelt. „We have a lot of songs, and we‘re gonna keep ‘em coming“, sagt der 27-Jährige, und er hat wirklich eine Menge Lieder, für einen immer noch so jungen Musiker zumal. „Es macht uns wirklich großen Spaß, hier auf der Bühne zu stehen und für euch zu spielen“, sagt Bugg und fast lächelt er dabei. Man glaubt es ihm sofort, denn es geht ja allen so: Endlich wieder Musik, endlich wieder Menschen. Im Nachthimmel leuchtet der Funkturm bunt.