Serie des Monats Juli 2021: „Them“
Den Erfinder des Aufsehen erregenden Zehnteilers, Little Marvin, treibt vor allem eine Frage um: Wie viel hat sich seit den 50er-Jahren tatsächlich verändert?
Das gelobte Land: so sieht es also aus. Einladend auf den ersten Blick, beängstigend auf den zweiten. Die Familie Emory zieht nach Kalifornien, um ein neues Leben zu beginnen – doch konfrontiert werden sie mit den ewig alten Vorurteilen, mit Hass und Argwohn. Es ist 1953, die Emorys sind Schwarze, die in einer weißen Siedlung ein Haus kaufen. Den rassistischen Terror, den sie erleben, überhöht der Erfinder, Produzent und Regisseur der Serie, Litte Marvin, auch noch durch klassische Horror-Szenen. Grausame Realität und gar nicht so viel grausamere übernatürliche Phänomene steigern sich bei „Them“ (Amazon Prime) bis ins fast Unerträgliche.
Little Marvin möchte es den Zuschauern nicht leicht machen, sondern ihnen drastisch vor Augen führen, was Rassismus anrichtet: „Es tut mir leid, wenn ich jemandem Albträume verursache! Aber ich kam ja auf diese Idee, weil der Terror, den die Serie beschreibt, immer noch ziemlich ähnlich vorhanden ist. Ich habe – wie wir alle sehr viel darüber nachgedacht, wie zerbrochen Amerika ist, wo wir stehen und wo wir hinwollen. All diese Fragen haben mich in dem Wunsch befeuert, diese Geschichte zu erzählen, die auf dieses Land schaut, früher und heute.“
Ashley Thomas („24: Legacy“, „Top Boy“), der Henry Emory spielt, hatte anfangs schon etwas Probleme damit, sich in die 50er-Jahre hineinzuversetzen: „Das war das Schwerste: meine heutige Denkweise umzustellen auf eine von 1953. Damals hatten die Leute natürlich ähnliche Gefühle, aber doch ganz andere Einschränkungen und Zwänge in ihrem Leben. Noch mehr als heute konnte damals der kleinste Fehler, ein falsches Wort den Tod bedeuten. Der aggressive Hass brach sich schnell Bahn.“ Deborah Ayorinde („Luke Cage“, „The Village“) empfand es vor allem als Herausforderung, dass sie in ihrer Rolle als seine Ehefrau, Lucky, gleich die doppelte Benachteiligung ertragen musste: „Damals wurden ja nicht nur Schwarze schlecht behandelt, sondern Frauen auch. Lucky erfährt als schwarze Frau also beides. Und es ist ja schon schwer genug, heutzutage eine schwarze Frau zu sein. Aber damals? Noch viel schlimmer!“
Die beiden sind ein beeindruckendes Paar in „Them“ – sie machen das Grauen so gut nachvollziehbar wie die Liebe, die innerhalb der Familie verzweifelt aufrechterhalten wird. Alison Pill („Devs“, „Star Trek: Picard“) darf die fieseste Figur spielen: Betty Wendell ist eine rassistische, hinterlistige Hausfrau, die ihre Unmenschlich keit hinter einem starren Lächeln verbirgt. „Die Kostüme und die Perücke haben mir bei der Transformation geholfen“, sagt Pill. „Ich sah dann im Spiegel tatsächlich Betty. Ich wollte diese Figur als Person zeigen, die nie den Mund aufmacht, die manipuliert und ihr Leben lang Gewalt ausübt, aber ohne diese sonst typisch männlichen Eigenschaften. Auf heimtückische Weise.“ Es gibt einige Szenen, bei denen man besser nicht zu genau hinguckt, doch Little Marvin hofft, dass auch die Zuschauer merken, dass ihm die emotionalen und psychologischen Komponenten wichtiger waren als die Schockmomente: „Ich bin ein großer Fan der Horrorfilme der 60er- und 70erJahre, bei denen die Geschichten immer vom Gefühlsleben der Protagonisten ausgehen. Von dort brodelt dann langsam der Horror hoch. Ich mag es nicht, wenn man alle zwei Sekunden aufgeschreckt wird, ohne dass etwas dahintersteckt. Ich finde es besser, wenn man zum Denken und Fühlen angeregt wird.“
„Das Ausmaß an Hässlichkeit, an Vorurteilen ist viel schrecklicher als jeder Horror-Moment“
Für Ayorinde sind die übernatürlichen Elemente auch eher Nebensache: „Ich finde die echten Menschen, die echten Situationen in dieser Serie viel beängstigender. Von Menschen erwarten wir ja eigentlich, dass sie sich menschlich verhalten und alle anderen auch entsprechend behandeln. Aber wenn man dieses Ausmaß an Hässlichkeit, an Vorurteilen, an Unmenschlichkeit aus reiner Angst sieht, dann ist das viel schrecklicher als jeder Horror-Moment.“
Beide, Ayorinde und Thomas, haben sich diese Rollen auch ausgesucht, weil sie hoffen, dass sie damit zu einer Diskussion über den anhaltenden Rassismus nicht nur in den USA beitragen und vielleicht sogar zu mehr Mitgefühl und Verständnis animieren können. Und dass dann irgendwann mehr Harmonie möglich ist. „Große Ziele, aber nicht unmöglich“, so Thomas, „wenn wir aufhören, alles unter den Teppich zu kehren.“
Natürlich haben alle an „Them“ Beteiligten im Geschichtsunterricht etwas über die Great Migration gelernt, natürlich haben sie gerade in den Trump-Jahren noch mal mehr darüber nachgedacht, wie viel sich eigentlich wirklich seitdem verbessert hat. Kann eine Serie helfen, einem diese Themen (noch) näher zu bringen? Alison Pill glaubt fest daran: „Diese Geschichte berührt auf einem anderen, menschlichen Level. All die Begriffe wie Redlining oder Segregation fangen an zu leben. Man erkennt die historische Linie von den 1850er-Jahren über die 1950er-Jahre bis heute. Man sieht, wie sich die Politik auf das Leben jedes einzelnen Menschen ausgewirkt hat, zu Hause, bei der Arbeit, überall. In Familien und größeren Gemeinschaften. Wenn wir also heute über alle möglichen politischen Aspekte reden – über Infrastruktur, Wohnungsbau, Schulsystem, was auch immer –, dann sollte uns immer klar sein, dass das System sich im Vergleich zu den 50er-Jahren nicht geändert hat – und darunter leiden alle. Alles ist miteinander verbunden. Meine Hoffnung ist, dass die fiesen, unvergesslichen Momente in dieser Serie, die einem den Magen umdrehen, weil sie praktisch die Personifikation von White Supremacy sind, dafür sorgen, dass wir uns die Realität nicht mehr schönreden. Wir müssen sie mit offenen Augen erkennen – und sie dann ändern.“
Stephen King hatte Höllenangst
Pill erinnert an den berühmten Satz von James Baldwin: „Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced.“ Natürlich ist Little Marvin derselben Meinung, aber er sieht das Ganze etwas spielerischer. Eine Serie ist eben auch Entertainment. Als Filmemacher bewundert er Alfred Hitchcock und William Friedkin, Brian De Palma und David Lynch – und das sind nur die, die ihm innerhalb von drei Sekunden einfallen. Bestimmt hat er auch Stanley Kubricks „The Shining“ mehr als einmal gesehen. Little Marvin hat große Ambitionen und auch großes Glück: Amazon hat bei ihm, der bislang nur kleinere Projekte verantwortete, gleich zwei „Them“-Staffeln bestellt, wobei der Inhalt der zweiten noch geheim ist. Sie wird jedenfalls keine Fortsetzung sein, sondern in einer anderen Ära spielen.
Leidet er nun auch unter einem gewissen Erfolgsdruck? „No way“, sagt er. „Es ist doch großartig, ich habe Arbeit! Wir sind alle gern angestellt, und wir können für die zweite Staffel jetzt auch etwas aus der ersten lernen. Für mich als Anfänger ist das grandios, so eine Partnerschaft mit einem so großen Anbieter – mit so viel Vertrauen und so viel Freiheit.“ Doch er ist keiner, der sich schnell zufrieden gibt. Gefragt, was er sich für „Them“ wünscht, sagt er ohne Zögern: „Noch sieben weitere Staffeln.“ Das könnte klappen, immerhin hat er schon einen prominenten Fan: Stephen King tweetete nach der ersten Folge, er habe eine „Höllenangst“ gehabt.