„Persepolis“-Schöpferin Marjane Satrapi: „Ich habe es gehasst, Kopftuch zu tragen“
Vor 20 Jahren veränderte die Iranerin Marjane Satrapimit ihrem Comic-Memoir „Persepolis“ die Welt. Nun kämpft sie im Kino gegen Vorurteile.
Viel hat sich geändert, aber eines ist gleich geblieben: Beim Kopftuch platzt Marjane Satrapi immer noch der Kragen. Als junge Frau widersetzte sie sich den strengen Regeln der Mullahs und trug das Kopftuch so, dass ihr Haaransatz zu sehen war. Es waren die Zentimeter, die sie sich als moderne und progressive Frau nicht nehmen ließ, wie sie es in ihrem Comic beschreibt.
Inzwischen kämpft sie nicht mehr nur zentimeterweise für die Freiheit. „Hören Sie, ich habe es gehasst, das Kopftuch zu tragen. Ich hasse es bis heute, und ich weiß genau, was es bedeutet. Aber wer um Himmels willen bin ich, anderen zu erklären, was gut oder schlecht für sie wäre?“ Das Gleiche gelte für alle anderen. „Ich mache mich für eine Gesellschaft stark, in der jeder Mensch so leben kann, wie er möchte.“
Davon seien aber auch westliche Gesellschaften wie die französische, in der sie seit über 25 Jahren lebt, noch weit entfernt. Die Kopftuchdebatte ist für die Feministin Satrapi nur eine Scheindebatte. Man könnte ebenso diskutieren, ob Hipsterbärte nicht zu sehr an den Islam erinnern und deshalb verboten gehören. Das passiere aber nicht, stattdessen treffe es „jedes Mal uns Frauen“, echauffiert sie sich. „Mal sind wir zu sexy, dann wieder nicht sexy genug, mal dies, mal das. Verdammt noch mal, lasst uns in Ruhe!“, fordert die Wahlpariserin entschieden. „Entweder wir sind alle frei oder niemand.“
Um ihre eigene Freiheit und die der anderen ging es auch in Satrapis autobiografischem Comic „Persepolis“, in dem sie vor 20 Jahren in einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnungen ihre Kindheit und Jugend zur Zeit der Mullahs aufgearbeitet hat. Der Comic ist ein echter Bestseller, über vier Millionen Exemplare sind weltweit über den Ladentisch gegangen. Die deutsche Ausgabe ist der Kassenschlager beim Schweizer Comicverlag Edition Moderne und wurde gerade neu aufgelegt.
Vorbild „Maus“ von Art Spiegelman
„Persepolis“ hat den Comic nicht nur in deutschen Redaktionen zu einem anerkannten Kulturgut gemacht und besitzt damit einen ähnlichen Stellenwert wie „Maus“ von Art Spiegelman. Eine Ausgabe von dessen „Geschichte eines Überlebenden“ brachte Satrapi auf die Idee, ihre eigene Geschichte in Comicform zu erzählen.
Als sie Mitte der Neunziger nach Frankreich kam, schenkte ein Freund ihr den Comic. Nach dem Lesen dachte sie, wenn sie ihre Geschichte erzählen würde, dann als Comic. Weil das Bild bedeutender ist als die Schrift, wie sie erklärt. „Menschen haben Vorstellungen und Überzeugungen, über die sie nur sehr schwer hinwegkommen. Das ändert sich erst, wenn sie sehen, dass die Wirklichkeit anders ist, als sie sie sich vorstellen.“
Und tatsächlich verändern Satrapis Comics die Perspektive. Sie lüften den Schleier, unter dem die Mullahs den Iran begraben haben, und zeigen echte Menschen mit echten Schicksalen, die nicht den Pappfiguren der Vorurteile entsprechen. Sie konzentrieren sich auf das Menschliche, mit allen Schrecken und allen Freuden. So ist Marjane Satrapi zum einflussreichsten weiblichen Vertreter der Neunten Kunst aufgestiegen.
Seit ihrer preisgekrönten Leinwandadaption von „Persepolis“ hat Satrapi sich aber ganz dem Kino zugewandt. Es berge Überraschungen, und vor allem sei es „eine Gefühlsmaschine, wie es keine andere auf der Welt gibt“. Diese Maschine hat sie zuletzt für ihre sehenswerte Verfilmung des Lebens von Marie Curie mit Rosamund Pike in der Hauptrolle angeworfen. Tatsächlich kommt man darin der Entdeckerin der Radioaktivität näher, begreift aber auch die düsteren Folgen ihrer Forschung.
Sehnsucht nach Auseinandersetzung
Satrapi schätzt am Kino die Zusammenarbeit mit anderen, „diese Herausforderung, mich auf Neues, Überraschendes einzulassen“. Das sei „eine wunderbare Übung für unser Gehirn“, die im Lockdown viel zu kurz komme. Der mache uns alle nur dümmer, ist sie sicher. „Wenn wir vor die Tür gehen, treffen wir auf Leute, die wir uns nicht aussuchen können. Wir begegnen zwangsläufig anderen Meinungen und Ansichten. Allein das fordert uns heraus. Jetzt im Lockdown fällt das aber weg, und wir suchen uns aus, mit wem wir reden. Wir sprechen fast nur noch mit Menschen, die genauso wie wir sind, denken und fühlen.“
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Diese Sehnsucht nach Auseinandersetzung ist ein Grund, warum Satrapi mit den Comics fertig ist. Ein anderer ist, dass ihr die intellektuelle Herausforderung beim Comic fehle. Das Kino aber biete ihr Vielfalt, Herausforderung, Neugier und Überraschung. Deshalb gibt es für sie auch „nichts Besseres, als am Set zu sein und einen Film zu machen. Dabei habe ich die schönsten Momente meines Lebens.“
Momentan arbeitet sie trotz Lockdown an drei Filmprojekten gleichzeitig. Worum es geht, behält sie für sich.