Sie rettet Syriens Kinder vor dem Krieg
SOS-Kinderdorfmutter Salam Khalaf hat selbst die Schrecken des Krieges erlebt. Das hilft ihr bei der Versorgung von Kindern, die alles verloren haben. Der kleine Azzam lernt, seine Traumata durch Zeichnen zu verarbeiten. Über die Herausforderung für Kinder in Syrien zu sorgen.
Mit etwa 6,6 Millionen Vertriebenen führt Syrien laut UNHCR-Jahresbericht 2019 die Länder mit den meisten Flüchtlingen an. Grund ist vor allem der Bürgerkrieg. Kinder leiden darunter besonders. Sie verlieren ihre Familie, ihr Zuhause und erleben mitunter schlimmste Gräueltaten. Hilfe bekommen sie von den SOS-Kinderdörfern. So helfen sie Kindern in Krisenzeiten.
Immer dann, wenn nachts in Aleppo wieder die Artillerie donnerte, automatische Gewehre feuerten oder Raketen einschlugen, holte Salam Khalaf ihre Kinder zusammen. „Sie kamen weinend zu mir“, erzählt die SOS-Kinderdorfmutter. „Dann habe ich auch die anderen geweckt, und wir haben uns im Wohnzimmer versammelt.“ Salam Khalaf arbeitet seit 20 Jahren für die SOS-Kinderdörfer, sie hat seitdem 26 Kinder betreut. Das ist nicht immer einfach. Salam Khalaf ist SOS-Kinderdorfmutter in Syrien. In dem Land herrscht seit neun Jahren Bürgerkrieg. Im Herbst 2012 musste sie mit ihren Kindern aus Aleppo fliehen. „Wir waren dem Ort alle sehr verbunden, aber es gab keine andere Wahl“, sagt Khalaf.
SOS-Kinderdorfmutter Salam und ihre Kinder stiegen in Busse und schafften es nach Qudsaya westlich der Hauptstadt Damaskus. In diesem SOS-Kinderdorf scheint der Bürgerkrieg, der im Norden noch immer Opfer fordert, heute weit weg. Tatsächlich aber prägt die Erfahrung der Gewalt die Kinder noch lange nach ihrer Flucht.
Trauma-Therapie schafft Perspektiven für betroffene Kinder
„Ich denke jeden Abend vor dem Einschlafen an meinen toten Bruder. Es tut weh, mich an all das zu erinnern. Ich will nicht, dass sich das jemals wiederholt“, sagt der zehnjährige Azzam. Er verlor nacheinander seine Mutter, seinen Bruder und sein Zuhause. Auch er kommt aus Aleppo, auch für ihn gibt es keinen Weg zurück. Sein Vater hat wieder geheiratet und die vier Kinder alleingelassen. Halt fand Azzam zunächst im Übergangszentrum der SOS-Kinderdörfer und dann im SOS-Kinderdorf Saboura, ebenfalls in der Nähe von Damaskus. Neben diesen beiden Einrichtungen betreibt die Organisation im Bürgerkriegsland noch das Haus Sahnaya. An den drei Orten wachsen insgesamt 170 Kriegswaisen auf.
„Ohne psychologische Hilfe leiden sie ein Leben lang an Lernschwächen, Panikattacken und sind sozial auffällig“
Nicht nur für Azzams Zukunft ist die Hilfe bei der Bewältigung der Traumata entscheidend. Schätzungsweise 85 Prozent aller syrischen Kinder haben in dem seit neun Jahren dauernden Krieg schwere Gewalt, Angst und Verluste erfahren, die ihr weiteres Leben massiv beeinträchtigen können. „Ohne psychologische Hilfe leiden sie ein Leben lang an Lernschwächen, Panikattacken und sind sozial auffällig“, sagt Teresa Ngigi. Sie ist Psychologin und Expertin für posttraumatische Belastungsstörungen bei den SOS-Kinderdörfern.
Azzams Stiefmutter brachte ihn und seine drei Geschwister in die Obhut der SOS-Kinderdörfer. In Saboura lernt er heute mithilfe von Trauma-Experten, das Erlebte aufzuarbeiten. Nicht immer können die Kinder die schlimmen Bilder in Worte fassen, deshalb gibt es für sie die Möglichkeit, sich stattdessen durch Malen, Spielen oder Singen auszudrücken. Teresa Ngigi: „Das nimmt den Druck und schafft Distanz zu dem, was passiert ist.“
Die Grundlage für die Erholung der Psyche, für ein Weiterleben ohne ständige Angst ist zunächst die Wiederherstellung eines geregelten und behüteten Alltags. Routine durch feste Mahl- und Schlafenszeiten, durch Unterricht und natürlich Spielen ist dabei hilfreich.
Ein geregelter Alltag bringt Normalität …
Salam Khalaf bringt eine Menge Routine mit für ihre Rolle als SOS-Kinderdorfmutter. „Ich stehe jeden Morgen um sechs Uhr auf und wecke die Kinder“, erzählt sie über den Familienalltag. Dann zieht sie die Gardinen auf, streichelt den Mädchen und Jungen die Schultern, rüttelt sie sanft und treibt sie an, aufzustehen und sich zu waschen, bevor es in die Schule geht. „Ein Kind fühlt sich wohl und sicher, wenn eine Mutter an der Tür steht und es verabschiedet“, sagt Khalaf.
„Ein Kind fühlt sich wohl und sicher, wenn eine Mutter an der Tür steht und es verabschiedet“
Als SOS-Kinderdorfmutter Salam mit ihren Kindern 2012 aus Aleppo entkam, ließen sie das Spielzeug liegen. „Weil wir dachten, dass wir nach zwei, drei Monaten zurückkehren können“, erinnert sich Salam Khalaf. Sie fühlt diese Ohnmacht, weil sie ihr Zuhause verlassen musste und der Weg in ihr altes Leben versperrt ist. Diese Trauer ist wohl auch eine Brücke zu den Kindern. „Ich kann ihren Schmerz spüren“, sagt Khalaf.
… trotz ständiger Angst
Bis heute, acht Jahre danach, erinnern sich die Kinder daran, dass ihre Spielzeuge zurückbleiben mussten. Und dass sie in ihrem neuen Zuhause nicht sicher waren, denn der Krieg kam auch nach Qudsaya.
„Die zweite Evakuierung war noch schwieriger“, sagt Salam Khalaf. Der Krieg war noch lauter, noch bedrohlicher, noch näher herangekommen. Und auch dieses Mal blieb Salam Khalaf bei ihren Kindern, tröstete sie, floh mit ihnen in eine sichere Unterkunft. Die Frau, die gleich zweimal in Syrien Kinder vor dem Krieg bewahrte und ihnen ein neues Zuhause gab, wurde 2019 mit dem Helmut-Kutin-Preis ausgezeichnet, benannt nach dem langjährigen Präsidenten von SOS-Kinderdorf International. „Die Kinder umarmten mich so fest, dass ich fast umfiel“, erinnert sich die SOS-Kinderdorfmutter an den Moment, als sie die Nachricht von der Auszeichnung erhielten. Es war ein Preis auch für die Tapferkeit ihrer Kinder.
Salam Khalaf betreut zurzeit neun Mädchen und Jungen. Regelmäßig kochen und essen sie gemeinsam. Manchmal, sagt sie, gebe es Kinder, die ihr besonders nah seien. Das geschehe, wenn sie mehr Pflege brauchten oder anfälliger seien. „Ich versuche, das den anderen Kindern nicht zu zeigen, damit sie nicht eifersüchtig werden.“ Sie stelle sich einfach vor, wie sich deren leibliche Mutter verhalten würde, sagt Salam Khalaf.
Am wohlsten fühlen sich alle Kinder beim Spielen. Nicht nur die von Salam. Auch Azzam, der im etwa 15 Kilometer entfernten SOS-Kinderdorf Saboura mithilfe von Zeichnen das Erlebte bewältigen kann. Für Kinder wie ihn ist Malen eben auch Therapie. Auf seinen Bildern verarbeitet er die Zerstörung, aber er blickt so auch in die Zukunft. Auf einem Bild hat er seine Heimatstadt Aleppo beim Wiederaufbau gemalt, auch für ihn selbst hat er hier eine Rolle gefunden: als Ingenieur, der die Arbeiter anleitet. „Diese Zeichnung macht mich glücklich, weil es sich gut anfühlt, Menschen nach Hause zurückzubringen“, sagt Azzam.
Das bewirkt eine Spende für Kinder in Syrien
- 130 Euro finanzieren die therapeutische Begleitung eines traumatisierten Kindes
- 17 Euro ermöglichen die medizinische Untersuchung für ein Kind
- 41 Euro schaffen den Zugang zu Bildung für ein Kind (pro Monat)
Die SOS-Kinderdörfer weltweit sind seit 2019 Value Partner des International Music Awards (IMA). Der vom Rolling Stone gehostete Musikpreis steht für Haltung, Engagement und Innovation. Der nächste IMA findet 2021 statt.
Überall auf der Welt sind Kinder verlassen, vertrieben, vergessen. Seit über 70 Jahren helfen die SOS-Kinderdörfer weltweit diesen Kindern.
Eine Produktion der Axel Springer Brand Studios für die SOS-Kinderdörfer weltweit. Die Redaktion war nicht beteiligt.