„Jener Sturm“: James Ellroys Sex-&-Crime-Symphonie sprengt alle Grenzen
Der neue Teil von Ellroys „L.A.-Quartett“ bietet Verschwörungstheorien mit Over-the-top-Metaphorik und arbeitet offenbar ein ödipales Trauma ab.
Ein Foto macht im LAPD die Runde: „Orson Welles. Verheult und blutig.“ Was ist passiert? Unser aller Lieblingsbösewicht Dudley Smith hat den „kommunistischen Fettsack“ zusammengeschlagen und zu seinem Spitzel gemacht. Beflissen verpfeift „das Wunderkind“ fortan die linke Hollywood-Boheme.
James Ellroy hatte schon immer ein Faible, wahre und nachgesagte Schwächen einstiger Hollywoodlegenden genüsslich auszuwalzen. In „Jener Sturm“ ist vor allem Orson Welles Zielscheibe seiner Häme. „Ich kann ihn und seine Scheißfilme einfach nicht leiden, ich halte ihn für einen aufgeblasenen Schwätzer“, tat Ellroy gegenüber der Presse kund. „Also habe ich ihn fertiggemacht. Er ist tot, er wird mich nicht verklagen.“
„Der bramarbasierende Brecht hatte seine Bratwurst in Leni Riefenstahls Senf getunkt“
Aber keine Sorge, Ellroy teilt nach allen Seiten aus. Über die zwei faschistoiden LAPD-Cops, deren Ermordung die Handlung in Gang bringt, heißt es: „Rice war der Erzeuger von Kapeks drei Kindern, und umgekehrt. Die Witwen waren lesbisch verturtelt. Sie mussten Dirndl tragen sowie Nazi-Armbänder.“ Und erst die deutschen Exilanten: „Lotte Lenya war eine lendenleckende Lesbe. Der bramarbasierende Brecht hatte seine Bratwurst in Leni Riefenstahls Senf getunkt.“
Am Schlimmsten aber treiben es Dudley Smith und seine bisexuelle Geliebte Claire De Haven. „Dudley und Claire stehen für kaum beherrschten Wahnsinn“, sinniert Kay Lake, in ihrem Tagebuch. Tatsächlich ist das Post-Pearl-Harbour-L.A. bei Ellroy ein Panoptikum enthemmter Begierden, lediglich Kay Lakes Tagebucheinträge bringen Augenblicke der Reflexion in das fast tausendseitige Opus.
Als würde man sich in einen Tarantino verirren
Ansonsten pflügt Ellroy enthemmter denn je durch die Psychen seiner Figuren. Im Mittelpunkt des auf wenige Wochen im Jahr 1942 zusammengedrängten Plots steht die sexuelle und machtpolitische Rivalität zwischen dem späteren Police Chief Parker und Dudley Smith, um die sich diverse aus dem L.A.-Quartett bekannte Frauenfiguren scharen, zu denen sich noch eine mexikanische Nazi-Femme-fatale gesellt.
Eine marxistisch-faschistische Verschwörung zum Sturz der US-Regierung bringt die Geschichte in Gang, eine ziemlich clever ausgetüftelte Krimihandlung um einen zehn Jahre zurückliegenden Goldraub verleiht ihr den nötigen Spannungsbogen. Inspiriert von Luchino Viscontis Film „Die Verdammten“, den sein Orson Welles in einem Röhm-Putsch-Porno quasi „vorwegnimmt“, und den Nazi-Exploitation-Filmen der 70er-Jahre fährt Ellroy eine unüberschaubare, wenn nicht wirre Mischung aus erfundenen und historischen Ereignissen und privaten Obsessionen auf.
Verglichen damit verblasst Pynchons götterdämmerige Elbdampferorgie aus „Gravity’s Rainbow“ zu einer heiteren Kaffeefahrt. Das geht zwangsläufig auf Kosten der literarischen Qualität. Würde Ellroy seinen von ihm selbst zum „Meisterwerk“ erklärten Roman nicht auf einer Ebene mit Bruckner, Mahler und Schostakowitsch verorten, man könnte vermuten, es ginge ihm vor allem darum, Quentin Tarantino zu übertrumpfen.
Doch hier wie dort wirkt die Over-the-top-Metaphorik bisweilen ein wenig ermüdend. Hinzu kommt Ellroys eigenwilliger Umgang mit seinen Politverschwörern, die er in eine marxistisch-faschistische Fünfte Kolonne pfercht. Auch wenn der Hitler-Stalin-Pakt befremdliche Bettgefährten hervorgebracht hat: Die in diesem Buch von US-Kapital und Klerus unterstützte deutsch-mexikanisch-japanische Verschwörung ist in etwa so plausibel wie die Vorstellung, Brecht und Riefenstahl hätten eine Affäre gehabt.
Unstillbarer Hunger nach Sex
Zumal sich ausgerechnet Dudley Smith als Oberverschwörer entpuppt, der in SS-Uniform und mit Samuraischwert herumstolziert. Mit dem aus dem ersten L.A.-Quartett bekannten, kühl kalkulierenden Exekutor der totalitären LAPD-Ordnung hat der junge Sergeant Dudley indes noch wenig gemein. Hier zeichnet er sich eher durch einen unstillbaren Hunger nach Sex aus, den er mit seinem ständig beschworenen halbmeterlangen (!) Schwanz mit praktisch jeder weiblichen Figur praktiziert.
Womit der inzwischen 72-jährige Ellroy offenbar ein ödipales Trauma abarbeitet. In einem Interview mit dem „Spectator“ zumindest schwadroniert er, sein Vater sei ein Frauenheld gewesen, habe Rita Hayworth gevögelt und ständig mit seinem 20 Zoll langen Schwanz geprahlt.