Corona-Tagebuchnotizen von Arne Willander: Eric Rohmer
Einige Anmerkungen zu einem Supermarkt, einem Friseurladen, einem Kiosk und den Filmen eines französischen Meisters.
Was ich auch nicht gedacht habe: Dass man in Berlin morgens in einen Supermarkt geht und die Frau vor einem und die Frau nach einem zu niemandem Bestimmtem „Guten Morgen“ sagen, als würden sie eine beschauliche Dorfbäckerei betreten, in der sie die Verkäuferin seit jeden kennen.
Ich kenne die Kassiererin beim Niedrigpreis seit einigen Tagen, sie ist immer morgens im Dienst. Wenn ich die EC-Karte vorzeige, gibt die Frau ein Geräusch wie ein zustimmendes Seufzen von sich und sagt: „Ist jetzt freigeschaltet“, und wenn ich „Danke“ sage und den Pappbeutel hochhebe, sagt sie im selben Moment „Danke“.
Soziale Kontakte – in Anführungszeichen
Es nützt aber nichts, abschließend „Schönen Tag!“ zu rufen. Sie reagiert darauf nicht. Es gibt nur dieses „Danke“ und den Kassenzettel aus dem Gummihandschuh. Sie legt ihn auf die Stelle, die früher in Supermärkten eine geräumige Rutsche war.
Die Friseurin in der Straße hat ein ausgedrucktes Blatt Papier neben ihren verrammelten Laden gehängt, in der sie um Verständnis dafür bittet, dass sie derzeit nur Stammkunden nach Vereinbarung bedient, um die „sozialen Kontakte“ zu vermindern. „Soziale Kontakte“ in Anführungszeichen.
Sie heißt Kurt und hat viele soziale Kontakte, schwatzt mit den Stammkunden und lacht laut, wenn auch nicht mit mir. Ich werde einen Termin mit mir vereinbaren, um herauszufinden, ob ich als Stammkunde gelte. Oft habe ich den Eindruck, dass sie mich wiedererkennt, wenn sie mich sieht.
Im urgemütlichen Tabak-, Lotto- und Zeitschriftenladen stehen drei Stammkunden, trinken Kaffee und rauchen, was nicht im Sinne des Erfinders ist. Der Patron schaut schuldbewusst durch den Qualm und versucht das launige Gerede der rauchenden Kaffeetrinker zu übertönen. „Ich habe Geld geholt“, sage ich unnötig. „Gut, dass noch welches da ist“, sagte der Ladenmann, der aus Wien stammt, aber nicht so spricht.
Gesammelte Werke von Eric Rohmer
Was ich eigentlich sagen will: Meine Studien zu den Filmen von Eric Rohmer haben Formen angenommen. Die drei Zyklen gibt es nun erstmals gesammelt – mit den frühen Kurzfilmen – auf DVD (in drei Kassetten bei Arthaus): „Moralische Erzählungen“, „Komödien und Sprichwörter“ und „Erzählungen der vier Jahreszeiten“, die man grob den 60er- und frühen 70er-Jahren (Moralische Geschichten), den 80er-Jahren (Komödien und Sprichwörter) und schließlich den 90er-Jahren (Jahreszeiten) zuordnen kann.
Drei Dinge, die man von Rohmers Filmen weiß: Es wird immerzu geredet, es sind schöne Frauen zu sehen, und die Akteure wurden im Lauf von Rohmers Schaffen immer jünger, während er naturgemäß älter wurde.
AmazonEric Rohmer studierte Literatur in Paris, schrieb als junger Mann, da hieß er noch Jean-Marie Schérer, einen Roman, wurde 1944 Lehrer, verfasste bald Filmkritiken und mit Claude Chabrol ein Buch über das Kino von Alfred Hitchcock, wurde für wenige Jahre Chefredakteur der „Cahiers du Cinema“, inszenierte 1959 seinen ersten Spielfilm, noch ohne Zyklus, gründete mit Barbet Schroeder eine Produktionsfirma und drehte dann monomanisch seine Gesellschaftsfilme.
Theatralische Dialoge, keine filmischen Finessen
Durch alle Zyklen behielt er den unvoreingenommenen, wie beiläufigen, aber durchaus indiskreten Blick auf die Menschen, die Kamera stets beweglich in Halbdistanz, ohne filmische Finessen. Bei Rohmer agieren die Schauspieler (wenn es überhaupt welche waren – er arbeitete selten mit bekannten Mimen) ohne Manierismen an realistischen Schauplätzen, in Paris, in der Vorstadt, auf dem Land.
Rohmers ziselierte, mäandrierende Dialoge sind theatralisch, sie könnten auch auf der Bühne gesprochen werden. Fast nie spielt ein Film außerhalb von Frankreich. Doch Eric Rohmer war ein Verehrer der deutschen Klassik. Anfang der 70er-Jahre promovierte er, bald 50 Jahre alt, über Murnaus Faust-Film, und 1976 drehte er mit deutschsprachigen Theaterschauspielern „Die Marquise von O.“ von Heinrich von Kleist auf einer Burg in Franken; fürs Theater übersetzte er 1979 „Das Käthchen von Heilbronn“, ein Fiasko.
Unter den französischen Filmautoren der Nouvelle Vague, die alle Außenseiter waren, war er der Außenseiter. Rohmers Filme kosteten nicht viel, sie brauchten kaum Aufwand und hatten spätestens seit „Meine Nacht bei Maud“ (1968) eine treue Gemeinde. Manche Schauspieler sah man in eigenen seiner Filme, die meisten sah man nie wieder. All seine Filme handeln von den Formen und dem Volatilen der Liebe, die in einer Versuchsanordnung wie in den „Wahlverwandtschaften“ (aber meistens mit mehr Personal) in einem Reigen gespielt wird.
Die Frauen sind Spielerinnen, und die Männer müssen mitspielen und wollen es. Die meisten Figuren sind Studentinnen und Lehrerinnen, Dozenten und Bibliothekare, Buchhändlerinnen und Schauspielerinnen, und alle reden auf die natürlichste Weise karierte Ansichten über ihr Leben und die Welt, Angelesenes und Erfahrenes. Sie sind unentschlossen, wankelmütig, unzufrieden, launisch und narzisstisch. Sie warten auf die Gelegenheit, ihr Leben zu ändern. Sie begegnen jemandem, sie glauben, dass nun alles anders wird, und machen am Ende weiter wie bisher.
Über die Jahre sah ich fast alle Filme Rohmers, sie verschwammen in meiner Erinnerung zu einem einzigen unendlichen Rohmerfilm, weshalb ich sie immer mal wieder noch einmal sehen musste. Jetzt, da die drei Zyklen – die von 1962 bis 1998 reichen – vorliegen, werde ich sie dennoch nicht systematisch schauen. Man sieht an der Kleidung, der Architektur und den Autos, wann ungefähr die Filme gedreht wurden. Aber immer könnte es auch 1806 sein.
Aus dem Off – Corona-Tagebuchnotizen von Arne Willander